Flugsicherheit: 
Sehen und gesehen werden

von Detlev Hoppenrath

 

Alleine dieses Jahr (2003) waren insgesamt fünf mir persönlich bekannte Fliegerkameraden an Zusammenstößen in der Luft beteiligt, zwei von ihnen leben nicht mehr. Zwei konnten aussteigen, einer landete seine Maschine nach dem Zusammenstoß wieder.

Ich glaube, es gibt kaum einen Segelflieger, der nicht schon einmal einen "near miss" erlebt hat, einen Beinahezusammenstoß. Der Grund dafür muss nicht  unbedingt Fahrlässigkeit sein -  beim Segelfliegen gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die kollisionsbegünstigend sind:

Wenn man sich die Liste der Risikofaktoren ansieht, dann wird schnell klar, dass sie alle unter anderem mit dem Sehen zu tun haben. Ich will hier also nicht auf all die selbstverständlichen Grundlagen und Standardregeln eingehen (Kreisflugregeln etc.), sondern schwerpunktmäßig auf das Thema Sehen.

Optische Fehleinschätzung

Ein Klassiker ist die bekannte optische Täuschung: Man erkennt vor sich ein anderes Flugzeug, ohne dabei – etwa durch Blendung, Entfernung, mangelnden Kontrast des Hintergrundes oder andere Ursachen – Details ausmachen zu können. Wenn man in Bild 1 die beiden unteren Flugzeuge abdeckt (also nur die Silhouette übrig lässt), wird dieser Effekt deutlich. Ohne weitere Details in Farbgebung oder Schattenwurf können wir nicht unterscheiden, ob das Flugzeug auf uns zukommt oder sich entfernt.

Bild 1: Erkennt man nur die Silhouette einer Maschine,
so lässt sich oft nicht zweifelsfrei ausmachen, ob sie auf 
einen zukommt oder sich entfernt.

Mit einer kleinen Rechnung kann man verdeutlichen, welche dramatischen Auswirkungen dieser Effekt haben kann: Angenommen, ich beobachte die andere Maschine 5 Sekunden lang, um herauszubekommen, ob sie auf Kollisionskurs ist (bedingt durch die perspektivische Sicht ist die Maschine auf Gegenkurs 8 Sekunden vor der Kollision so klein zu sehen, dass sie mit dem Daumen der ausgestreckten Hand problemlos verdeckt werden kann). Nachdem ich feststelle, dass Zusammenstoßgefahr besteht, leite ich unmittelbar eine Ausweichbewegung ein – was mich, falls ich gerade im Kreisflug bin und einen Kurvenwechsel fliegen muss, je nach Maschine etwa 3 Sekunden kosten kann (einschließlich Reaktionszeit). Der ganze Vorgang hat also 8 Sekunden gedauert.

Rechnen wir andersherum: Der Abstand von zwei Flugzeugen, die sich wie auf dem Bild in einem Winkel von ungefähr 140 Grad auf Kollisionskurs aufeinander zu bewegen, verringert sich pro Sekunde um etwa 50 Meter (vorausgesetzt beide Maschinen fliegen mit 100 km/h auf Gegenkurs). In 8 Sekunden sind das 400 Meter, fast ein halber Kilometer. Allein während des Kurvenwechsels schrumpft die Entfernung um 150 Meter.

Damit haben wir einen ganz guten Blick für die Relationen. Selbst wenn man den Luftraum aufmerksam beobachtet, kann es sehr schnell eng werden. Der Annäherungswinkel hat übrigens keinen allzu großen Einfluss auf den zeitlichen Ablauf: Nähert sich die andere Maschine in einem Winkel von 90 Grad, dann verringert sich die Entfernung immer noch um etwa 40 Meter pro Sekunde.

Es gibt zwei zuverlässige optische Indikatoren dafür, ob sich eine andere Maschine auf Kollisionskurs zum eigenen Flugzeug befindet: Die „Stehende Peilung“ und das sogenannte „Aufblühen“.

Stehende Peilung bedeutet, dass man die andere Maschine konstant unter dem selben Winkel sieht, sie also auf einem Punkt der Kabinenhaube zu kleben scheint. Mit anderen Worten: Die Lage der anderen Maschine verändert sich relativ zum eigenen Flugzeug nicht, beide müssen zusammenstoßen.

Eine stehende Peilung ist ein zuverlässiges Indiz für Kollisionskurs – mit zwei Ausnahmen:

Die stehende Peilung ist verbunden mit einem anderen Phänomen, das logischerweise aus jedem Kollisionskurs resultiert: Dem „Aufblühen“. Dadurch, dass die Entfernung zwischen beiden Flugzeugen ständig abnimmt, wächst der andere Flieger perspektivisch, wird also scheinbar größer (Bild 2).

Bild 2: Der Effekt des Aufblühens (Größenänderung bei stehender Peilung)

Risikofaktor Kreisflug 

Wie wichtig das Thema Sehen wird, möchte ich an zwei klassischen Beispielen erläutern, die sich beide auf den Kreisflug beziehen (ein großer Teil aller Zusammenstöße zwischen Segelflugzeugen passiert im Kreisflug).

Das erste Beispiel (Bild 3) bezieht sich auf zwei Maschinen, die sich im Flug begegnet sind (oder die vorher auf Parallelkurs waren, dann jedoch voneinander abdrehten und auseinander flogen). Kurz nach der Begegnung bzw. Trennung berühren beide Maschinen die selbe Thermik (1) und drehen sofort in Richtung der anlupfenden Fläche ein. Beide Maschinen sind zu diesem Zeitpunkt etwa 300 Meter voneinander entfernt, keiner der beiden Piloten weiß, dass der andere ebenfalls eindreht, es besteht auf Grund der Fluglage kein Sichtkontakt (beide Piloten müssten nach dem Einkurven schräg nach hinten sehen, um den jeweils anderen ausmachen zu können). Von diesem Punkt (1) an sind beide auf Kollisionskurs und nur 15 Sekunden von einem Zusammenstoß entfernt.


Bild 3: Kollision durch gleichzeitiges Einkreisen nach Begegnung auf Gegenkurs
(oder nach Trennung aus dem Parallelflug).

In der festen Überzeugung, alleine in der Thermik zu sein, setzen beide Piloten ihre gegensinnige Kreisbewegung fort. Zu ersten Mal können sie sich bei aufmerksamer Luftraumbeobachtung erst an Punkt (2) bemerken – wenn sie 90 Grad querab voneinander sind. An diesem Punkt sind sie noch etwa 11 Sekunden von der Kollision entfernt.

Sind beide Piloten jetzt abgelenkt oder beobachten den Luftraum nicht ausreichend, dann setzen sie den Kreis fort bis zu Punkt (3), dem letzten Entscheidungspunkt 3 Sekunden vor dem Zusammenstoß. Wer dieses Beispiel zu theoretisch findet: Ein solcher Unfall ist zuletzt vor wenigen Monaten passiert.

Im zweiten Beispiel (Bild 4) sind zwei Maschinen auf unterschiedlichen Kursen (zwischen 90 und 180 Grad) mit einem Abstand von 400 Metern zueinander unterwegs. An Position (1) haben beide Thermikkontakt und kreisen gleichsinnig ein. Auch in diesem Fall sind beide 15 Sekunden von einer Kollision entfernt.

Bild 4: Kollision bei gleichsinnigem Kreisen

Pilot A kann B nur sehen, wenn er nach rechts hinten sehen würde. Pilot B dagegen hat A zunächst wegen Gegenlichts nicht gesehen und wendet nach dem Einkreisen den Blick ins Kreisinnere, womit auch er zu keinem Zeitpunkt die andere Maschine sieht.

An Punkt (2) hätte A erstmals realistisch die Möglichkeit, B 8 Sekunden vor dem Zusammenstoß zu bemerken. Er hat allerdings schlechte Chancen dafür, falls er nicht aktiv hinsieht, da B bei dieser Winkellage nur im peripheren Bereich des rechten Auges wahrgenommen werden kann und sich relativ zur eigenen Maschine scheinbar nicht bewegt. Außerdem sieht A die Maschine von B nun von vorne, sie ist also schlecht erkennbar.

Punkt (3) ist die letzte Möglichkeit zur Entscheidung. B sieht weiterhin zur Kurveninnenseite und ist für A weiterhin außerhalb des zentralen Sehfeldes von je 30 Grad nach beiden Seiten (und kann deshalb nur noch mit dem rechten Auge wahrgenommen werden).

Die typische Kollision in der Thermik passiert übrigens ganz ähnlich. ein Beispiel dafür ist ein Untersuchungsbericht des BfU (siehe Literaturliste unten), in dem sich zwei Maschinen, die zuvor Sichtkontakt hatten, kurz aus den Augen verloren und sich in dieser Zeit vertikal und horizontal auf einander zubewegten, ohne dass dies den Piloten bewusst war (bzw. sie unterschätzten die Geschwindigkeit der Annäherung, siehe Abschnitt Fehleinschätzung von Zeit und Entfernung unten). Das Muster der Annäherung ähnelt dem oben beschriebenen Fall 2:


Bild 5: Aus einem Untersuchungsbericht des BfU - Kollision beim 
gleichsinnigen Kreisen ohne vorherigen Sichtkontakt

Zusammenfassung Kreisflug

  • Während des Flugs ständige aufmerksame Luftraumbeobachtung.

  • Die bloße Annahme, alleine in der Thermik zu hängen, kann fatal sein.

  • Unmittelbar nach der Begegnung mit anderem Luftverkehr nur dann einkreisen bzw. Vollkreise fliegen, wenn man sich im klaren über die Position des anderen ist. Besteht nach einem Halbkreis kein Sichtkontakt, dann ist etwas faul. In diesem Fall Kreisen abbrechen.  

  • Vor dem Einkreisen grundsätzlich den Kopf in beide Richtungen nach hinten drehen und aktiv den Luftraum bis zu 130 Grad nach hinten beobachten. Leider ist dies in manchen Flugzeugtypen (Hochdecker) und Cockpits nur eingeschränkt möglich.

  • Während des Kreisens auch nach der Kurvenaußenseite hin beobachten.

  • Bei Verlust des Sichtkontakts beim Kreisen sofort abbrechen.

 

Auszug aus der Segelflug-Betriebsordnung (SBO)

3.8 Streckenflug-Frequenz

Auch in kleineren Gruppen darf die Zusammenstoßgefahr nicht unterschätzt werden. Beim Zusammentreffen, z.B. auf Streckenflügen, ist die Bord-Bord Frequenz 122,80 MHz zu rasten. Bei Wettbewerben kann für diese Zwecke auch eine besondere Sicherheitsfrequenz vorgeschrieben werden.

Exkurs zum Thema Sehen

Eine sehr gute Zusammenfassung über das menschliche Sehen unter fliegerischen Gesichtspunkten wurde von Dr. Linhardt im Rahmen eines Untersuchungsberichtes der Österreichischen Flugunfallkommission veröffentlicht (Quelle: http://auav.nbs.at/unfall/84446.htm, siehe auch Literaturverzeichnis unten). Hier ein Auszug daraus (Hervorhebungen durch mich):

"Der Gesichtswinkel des Menschen misst ca. 190-200° und beginnt etwa ab dem 35. Lebensjahr kleiner zu werden. Die altersbedingte Gesichtsfeldeinengung erfolgt bei Männern etwa ab dem 55. Lebensjahr beschleunigt.

Bei direktem Blickkontakt und Tageslicht erscheinen Objekte am schärfsten und sind farblich unterscheidbar. Sehschärfe und Erkennbarkeit von Farben nehmen mit schwächer werdendem Licht und zum Rand des Gesichtsfeldes hin ab. Eine 5°-Abweichung von der Gesichtsfeldmitte bewirkt bereits einen Sehschärfeverlust von ca. 75 %. Vibrationen, Müdigkeit und Sauerstoffmangel reduzieren ebenfalls die Sehschärfe. Bei schwachen Lichtverhältnissen ist am Rand des Gesichtsfeldes der Sehschärfeverlust geringer und die Wahrnehmbarkeit von Hell-Dunkel-Unterschieden besser. Die Wahrnehmbarkeit von langsamen Bewegungen ist bei direktem Blickkontakt am besten, jene von raschen Bewegungen am Rand des Gesichtsfeldes.

Die Wahrscheinlichkeit, ein Luftfahrzeug wahrzunehmen, ist bei direktem Blickkontakt am höchsten. Ein am Rand des Gesichtsfeldes wahrgenommenes Objekt muss zur Identifizierung durch direkten Blickkontakt in der Gesichtsfeldmitte fixiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, Objekte am Rande des Gesichtsfeldes wahrzunehmen, sinkt mit zunehmender Arbeitsbelastung sowie durch Müdigkeit, Stress, Sauerstoffmangel, thermische Einflüsse und "Tagträumen".

Für das Scharfstellen auf ein Objekt benötigt die Augenlinse mindestens eine Sekunde. Mit zunehmendem Alter und bei Müdigkeit nimmt der Zeitbedarf auf mehrere Sekunden zu, gleichzeitig nimmt die Sehschärfe ab (unvollständiges Scharfstellen). Sofern das Auge kein Objekt zum Scharfstellen der Linse erfaßt (z.B. wolkenloser Himmel, Dunkelheit), erfolgt das Scharfstellen automatisch auf eine Distanz von ca. 50 cm und erschwert das Identifizieren entfernter Objekte. Sichthindernisse im selben Abstand (z.B. Instrumentenbrett, Verstrebungen, Verunreinigungen auf der Windschutzscheibe) können diesen Effekt verstärken.

Eine effektive Luftraumbeobachtung erfordert daher schrittweise Augen- bzw. Kopfbewegungen, wobei in 10°-Abständen kurze Pausen (mindestens eine Sekunde) zum Wahrnehmen und Fixieren von Objekten erforderlich sind. Während der naturgemäß schnellen Augenbewegungen zwischen den Fixierphasen sind keine Objekte wahrnehmbar. Langsame gleichförmige Augenbewegungen sind ausschließlich beim Verfolgen sich bewegender Objekte möglich. Mit zunehmender Arbeitsbelastung sinkt die Intensität der Augenbewegungen.

Eine Luftraumbeobachtung, die sich 180° horizontal und 20° vertikal erstreckt (am Horizont sowie 10° darüber und darunter) dauert demnach etwa eine Minute; währenddessen kann sich die Verkehrssituation grundlegend ändern.

Die Wahrscheinlichkeit, ein Luftfahrzeug zu erkennen, richtet sich nach dem Verhältnis seiner Größe (z.B. Rumpflänge) zu seiner Entfernung, d.h. nach dem Öffnungswinkel der vom Luftfahrzeug in das Auge fallenden Lichtstrahlen. Als Schwellenwert, um ein in der Gesichtsfeldmitte befindliches Luftfahrzeug zu erkennen, kann ein Winkel von 24-36 Bogenminuten angenommen werden. Die Wahrscheinlichkeit nimmt zum Rand des Gesichtsfeldes hin ab (10° von der Gesichtsfeldmitte unter 20%) und kann durch bestimmte Sonnenbrillen nachteilig beeinflusst werden. Während der Annäherung nimmt der Öffnungswinkel, d.h. die scheinbare Größe des Luftfahrzeuges, umgekehrt proportional zur Entfernung zu; eine Halbierung der ursprünglichen Distanz bewirkt annähernd eine Verdoppelung des Winkels bzw. der Größe. Einem langsamen Größenzuwachs während der Annäherung folgt unmittelbar vor der Kollision ein rasches, explosionsartiges Anwachsen der Größe.


Bild 6: Eine gute Warnlackierung erhöht die Erkennbarkeit 
drastisch und ist damit ein guter Beitrag zur Flugsicherheit

(Aufnahme von Rudi Scholz 4/2002)

Die Fähigkeit des Auges, bewegliche Objekte mit höherer Wahrscheinlichkeit wahrzunehmen als unbewegliche, wirkt sich bei Luftfahrzeugen, die sich auf Kollisionskurs befinden, nachteilig aus. Luftfahrzeuge, die sich mit konstanten Eigengeschwindigkeiten auf geradlinigen Flugbahnen aufeinander zu bewegen, verharren scheinbar unbeweglich auf der Windschutzscheibe oder hinter einem Sichthindernis (z.B. Verunreinigung auf der Verglasung, Strebe, Instrumentenbrett).

Ist ein Luftfahrzeug durch Sichteinschränkungen bloß für ein Auge sichtbar, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dieses wahrzunehmen [liegt ein Objekt mehr als 30 Grad rechts oder links von der Mittellinie, ist es ohnehin nur noch durch ein Auge wahrzunehmen - Anm. d. Red.]. Einerseits kann unwillkürliches Scharfstellen auf das Sichthindernis die Wahrnehmbarkeit eines weit entfernten Objekts herabsetzen, andererseits kann ein Objekt im sog. "Blinden Fleck" (Netzhautunterbrechung am Sehnerv), wenn die Kompensation durch das andere Auge wegfällt, unsichtbar bleiben (Objekte von ca. 18 m Durchmesser in mehr als 200 m Entfernung). Diesem Umstand ist bei der Luftraumbeobachtung durch Kopfbewegungen Rechnung zu tragen.

Je komplexer der Hintergrund strukturiert ist (Wolken, Gelände), um so eher kann von diesem durch Überlagerung mit den Flugzeugkonturen ein Tarneffekt ausgehen, der die Wahrnehmbarkeit von Luftfahrzeugen herabsetzt. Große Helligkeitsunterschiede zwischen Luftfahrzeug und Hintergrund (Kontrast) verbessern die Wahrnehmbarkeit. Die Flugzeuglackierung kann abhängig vom Hintergrund zur Kontraststeigerung beitragen. Fluoreszierende Farben bewirken keine generelle Verbesserung der Wahrnehmbarkeit (bei hellem Hintergrund kontrastverringernd). Die Wahrscheinlichkeit ein dunkles Luftfahrzeug vor hellem Hintergrund (z.B. Himmel, schneebedeckte Hänge) wahrzunehmen ist etwa vier mal höher als bei einem hellen Luftfahrzeug vor dunklem Hintergrund (z.B. Wald). Dunst oder Nebel können durch Lichtstreuung den Kontrast zwischen Luftfahrzeug und Hintergrund herabsetzen.

Je näher ein Objekt bei direktem Blickkontakt einer Lichtquelle ist, umso größer ist die von ihr durch direkten Lichteinfall (z.B. Sonne) oder Reflexion (z.B. Haarrisse, Kratzer in der Verglasung) ausgehende Blendwirkung. Eine Lichtquelle, von der die Hälfte der in das Auge fallenden Lichtmenge ausgeht und die sich 40° von der Gesichtsfeldmitte befindet, reduziert die Sehleistung um ca. 40 % (5° von Gesichtsfeldmitte um ca. 80 %). Die Blendempfindlichkeit nimmt mit dem Alter zu."

Aus dieser Zusammenfassung geht hervor, dass unser Sehen ganz gewaltigen Einflüssen unterliegt, deren wir uns nicht bewusst sind. Erst wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass unser Sehvermögen bei weitem nicht so präzise und fehlerfrei ist, wie wir das annehmen, lassen sich Fehler vermeiden.

Zusammenfassung Sehen

  • Eine 5°-Abweichung von der Gesichtsfeldmitte bewirkt bereits einen Sehschärfeverlust von ca. 75 %

  • Die Wahrscheinlichkeit, Objekte am Rande des Gesichtsfeldes wahrzunehmen, sinkt mit zunehmender Arbeitsbelastung sowie durch Müdigkeit, Stress, Sauerstoffmangel, thermische Einflüsse und "Tagträumen"

  • Für das Scharfstellen auf ein Objekt benötigt die Augenlinse mindestens eine Sekunde. Mit zunehmendem Alter und bei Müdigkeit nimmt der Zeitbedarf auf mehrere Sekunden zu, gleichzeitig nimmt die Sehschärfe ab (unvollständiges Scharfstellen)

  • Während der naturgemäß schnellen Augenbewegungen zwischen den Fixierphasen sind keine Objekte wahrnehmbar. Langsame gleichförmige Augenbewegungen sind ausschließlich beim Verfolgen sich bewegender Objekte möglich. Mit zunehmender Arbeitsbelastung sinkt die Intensität der Augenbewegungen.

  • Eine Luftraumbeobachtung, die sich 180° horizontal und 20° vertikal erstreckt (am Horizont sowie 10° darüber und darunter) dauert demnach etwa eine Minute; währenddessen kann sich die Verkehrssituation grundlegend ändern

  • Die Wahrscheinlichkeit, ein Luftfahrzeug zu erkennen, nimmt zum Rand des Gesichtsfeldes hin ab und beträgt bei einer Abweichung von 10° von der Gesichtsfeldmitte nur noch unter 20%!

  • Objekte von ca. 18 Meter Durchmesser, die mehr als 200 Meter entfernt sind, können - wenn Sie im "Blinden Fleck" des Auges liegen, unsichtbar bleiben (Kopf in Bewegung halten)

  • Je komplexer der Hintergrund strukturiert ist (Wolken, Gelände), um so eher kann von diesem durch Überlagerung mit den Flugzeugkonturen ein Tarneffekt ausgehen, der die Wahrnehmbarkeit von Luftfahrzeugen herabsetzt

  • Eine Lichtquelle, von der die Hälfte der in das Auge fallenden Lichtmenge ausgeht und die sich 40° von der Gesichtsfeldmitte befindet, reduziert die Sehleistung um ca. 40 % (5° von Gesichtsfeldmitte um ca. 80 %)

 

Fehleinschätzung der Faktoren Zeit und Entfernung

Ich bin oben bereits auf den Faktor Zeit eingegangen. Zusammen mit der Sichtbarkeit eines Objektes in der Luft ergibt sich eine brisante Kombination: Da man weit schlechter sieht, als man annehmen möchte, ist die für Ausweichmanöver zur Verfügung stehende Zeitspanne meist sehr viel geringer ist, als man das allgemein annimmt. Außerdem benötigt man für ein sicheres Ausweichen unter Umständen weit länger, als man denkt.

Dazu ein paar Grundlagen:

Für die Erkennbarkeit eines Objektes ist dessen "scheinbare Objektgröße" maßgebend. Als Maß für diese Größe wird die Spannweite bzw. Rumpflänge in mrad zu Grunde gelegt. 1 mrad entspricht dabei einer Länge von 1 mm in einer Entfernung von 1 Meter vor dem Auge. In medizinischen Abhandlungen wird als Grenzwert für das Erfassen eines Objektes in der Luft eine scheinbare Größe von 2 mrad angenommen. Ein Flugzeug mit 10 Meter Spannweite könnte also theoretisch von einem sehr aufmerksamen Beobachter und unter idealen Sicht- und Wetterbedingungen auf 5 Kilometer ausgemacht werden.

Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus. Erstens stammt der erwähnte Richtwert aus medizinischen Untersuchungen, die nicht die besonderen Einflüsse beim Fliegen und auch nicht die flugmedizinischen Besonderheiten berücksichtigen, die Dr. Linhardt in seinem Gutachten veröffentlicht hat. Zweitens gibt es nahezu nie ideale Bedingungen. Kartenspiegelungen auf der Haube können die Wahrnehmung anderer Maschinen unmöglich machen. Zudem teilt jeder Pilot seine Aufmerksamkeit ständig zwischen Instrumenten und Punkten besonderen Interesses außerhalb des Cockpits. Obwohl es (übrigens sehr umstrittene) "Scanning-Methoden" zur Vermeidung dieser Fixierung gibt, belegen Untersuchungen (siehe  Blickbewegungsuntersuchung von Zahl/Kratzer), dass sich der Pilot letztendlich doch auf andere Dinge konzentriert. 

Also müssen wir all diese zusätzlichen Faktoren berücksichtigen - Ablenkungen, Spiegelungen, die langsame Adaptionsfähigkeit des Auges, der Tarneffekt des Hintergrundes, die drastische Abnahme unserer Sehschärfe zur Seite hin, die Ausblendung von Objekten im schwarzen Fleck etc.

Realistisch können wir damit annehmen, dass ein Objekt mit einer scheinbaren Größe von 2 mrad erst unterhalb der Idealentfernung wahrgenommen wird und möglicherweise aber - etwa durch den Tarneffekt des Hintergrundes und einer stehenden Peilung (fehlende Bewegung = Kollisionskurs) - überhaupt nicht oder erst aus minimaler Entfernung zu erkennen ist.

Unfalluntersuchungsberichte bestätigen das. Der bereits zitierte Bericht von Dr. Linhardt, in dem eine Kollision zwischen einem Segelflugzeug und einem Paragleiter untersucht wird, kommt zu dem Schluss, dass "in der Seitenansicht (Schirmtiefe ca. 2,5 m) ... [erst] innerhalb einer Distanz von ca. 300 m eine sichere Erkennbarkeit des Paragleiters anzunehmen (ist)". Das ist erschreckend wenig. 300 Meter bedeuten bei einer Relativgeschwindigkeit von rund 100 km/h (der Paragleiter flog nicht auf Gegenkurs, sondern vor dem Segelflugzeug her) rund 14 Sekunden Zeit bis zur Kollision. Auf Gegenkurs würden nur rund 6-7 Sekunden Zeit bleiben. 

Nachdenklich machen sollte vor allem: Unfalluntersucher gehen davon aus, dass die für die Einleitung eines erfolgreichen Ausweichmanövers erforderliche Zeitspanne bis zu 10 Sekunden ab Erkennen der Gefahr betragen kann (etwa die Hälfte der Zeit geht verloren durch die Reaktionszeit des Piloten und die Trägheit des Flugzeuges bei der Kursänderung, der Rest wird für die Gewinnung eines sicheren Abstandes benötigt). 

Nahezu alle Unfallberichte vermerken übrigens, dass auf Grund der stehenden Peilung die Gefahr erst zu spät oder überhaupt nicht erkannt werden konnte (sich nicht bewegende Objekte erkennt das Auge wesentlich schlechter als bewegte).

Zusammenfassung Zeit/Entfernung

Blendung: Flugbericht von SC

29. März 2004

Der folgende Bericht eines Segelfliegerfreundes illustriert das Unfallpotential, das in der Blendung steckt. Wie man dem Bericht unschwer entnehmen kann ist der Pilot selbst verblüfft über die massive Sichteinschränkung, die ihm erst nach geglückter Vermeidung einer Begegnung klar wurde und die er vorher für unmöglich gehalten hatte.

Ich poste den Bericht von SC hier unter anderem deshalb, weil er sehr stark an den von Dr. Linhardt untersuchten Zusammenstoß erinnert (Dr. Linhardt, GUTACHTEN UND VORSCHLÄGE betreffend den Zusammenstoß des Segelflugzeuges...), auf den in meinem Artikel oben stark eingegangen wird.

Hallo,

war heute fliegen (3 Stunden Duo Discus, um mir die Umgebung Challes-les-Eaux' von einem Ortskundigen zeigen zu lassen). Ich fliege an einem Hang entlang, von Ost nach West bei tiefstehender Sonne, die für mich logischerweise von vorne kommt. Der Hang ist schön wellig mit vielen Mulden, und an den Felsvorsprüngen kann man noch steigen mitnehmen.

Plötzlich sehe ich unter mir an der Felswand den Schatten eines Gleitschirmes. Habe entsprechend alarmiert den Luftraum abgesucht, nichts gesehen und bin schnell von der Felswand weggeflogen. Aus Sonnenstand und Schatten konnte ich ja schließlich ein potentielles Opfer irgendwo vor mir vermuten. Es stellte sich heraus, dass uns in gleicher Höhe (vielleicht ein klein wenig höher) ein Gleitschirmflieger entgegengekommen war, der nahe an der Felswand entlangflog, eben eine für mich nicht einsehbare Mulde verlassen hatte und die Sonne in seinem Rücken stand. Wenn ich den Schatten nicht gesehen hätte, wäre ich ihm wohl sehr nahe gekommen. Vermutlich wäre seine Flugrichtung auch egal gewesen, da die Geschwindigkeiten, mit denen man unterwegs ist, doch sehr verschieden sind und er, auch wenn er mich sieht, nicht so schnell und sicher ausweichen kann wie ein Segelflugzeug.

Mein Begleiter, der letztjährige Streckenflugrekordhalter des Platzes hat den Gleitschirm übrigens auch erst gesehen, nachdem ich vom Fels weggeflogen bin; gut, er saß ja auch hinten und sah vielleicht nicht so gut.

Was denkt man sich nun? Niemals gegen die Sonne fliegen? Augen besser aufsperren? Oder war das so ein Fall, bei dem man sich denkt 'shit happens' weil man sich keines Fehlers bewusst ist, den unerwarteten Vorfall als Messfehler betrachtend, um sich nicht unangenehme Gedanken machen zu müssen?

Keine Ahnung.

Ein anderer mag sich denken, mnja, so ein Trottel, soll halt aufpassen, oder besser nicht mehr fliegen. Hätte auch ich wohl heute morgen auch noch gedacht, wenn mir jemand von so einer Begegnung erzählt hätte.

Eigentlich sollte ich hier Mephisto aus dem Faust mit seinem Spruch zur grauen Theorie zitieren, spare ich mir aber, weil ich das gar nicht lustig finde.

SC

Nachtrag: Der BEKLAS-Bericht

28. Juli 2004

Nun ist der BEKLAS-Bericht erschienen ("Untersuchung über die Sichtbarkeit von Segelflugzeugen und kleinen motorisierten Luftfahrzeugen"). Der Bericht ist ziemlich bemerkenswert, weil er ebenfalls sehr stark auf das Sehen eingeht. Auf jeden Fall eine lesenswerte Lektüre. Danke an Walter Kronester, der mir den Bericht zugeschickt hat.

Literatur

Uwe-Carsten Zehl, Hannes Kratzer: Blickbewegungsuntersuchung; Sankt Augustin, 2000
LBA Braunscheig, Sehen und Vermeiden, FSM, Braunschweig Nov. 1994
Dr. Linhardt, GUTACHTEN UND VORSCHLÄGE betreffend den Zusammenstoß des Segelflugzeuges..., FUS, Wien 2000
Untersuchungsbericht 3X193-1/2/01, BfU, Braunschweig Juli 2002
Zusammenstoß Segelflugzeug - Hängegleiter (Flugunfallinformation 54), BfU, Braunschweig Mai 2000
Vermeidung von Zusammenstößen bei Flügen nach Sichtflugregeln (Flugsicherheitsinformation 158), BfU, Braunschweig Mai 2000
Zusammenstöße von Segelflugzeugen (Flugunfallinformation 136)
, BfU, Braunschweig August 1995
Untersuchungsbericht 3X224, BfU, Braunschweig September 2000

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