Das Streben nach dem Tao des Segelfliegens

von Valentin Maeder, 2003
Übertragung ins Deutsche Detlev Hoppenrath

Es ist viel über die mit dem Segelfliegen verbundenen Wissensbereiche geschrieben worden - über Ausrüstung, Meteorologie, mathematische Optimierungsmodelle, Checklisten, Sicherheit. Vergleichsweise wenig Reflektion jedoch wurde dem Thema „Faktor Pilot" gewidmet - womit die Dinge gemeint sind, die im Kopf eines Piloten vor sich gehen.

Es ist interessant, dass weiche Faktoren wie das „Mentale Modell" oder „Intuition" den Ausgang von Wettbewerben und Streckenflügen mehr entscheiden als die Leistungsfähigkeit der Maschine, obwohl sie schwerer zu fassen sind als etwa die Bedeutung der Gleitzahl oder eines geeigneten Bordrechners.

Das Streben nach Perfektion im Segelflug ist eine Leidenschaft, die den Piloten durch sein gesamtes Leben begleiten kann und die unterschiedliche Bedeutungen in den verschiedenen Phasen seines Lebens einnimmt. Und wenn man die Dinge aus dieser Perspektive betrachtet, dann ist es in vielerlei Hinsicht von der eigenen „inneren Reise" abhängig, wie weit man in seinem Segelflugzeug fliegen kann:

Mit Weisheit kommt die Ruhe
Mit der Ruhe wird man weicher und offener
So kann das innere Selbst eins mit der Außenwelt werden
Dies ist der Weg des Tao

Das Mentale Modell

Um im Segelfliegen die persönlichen Grenzen überwinden zu können ist es erforderlich, die innere Repräsentation oder das mentale Model der Wirklichkeit vor und während des Fluges geeignet anzupassen. Der richtige Umgang mit den eigenen Erwartungen ist ein Schlüsselaspekt, um die mentale Empfänglichkeit während des Fluges zu bewahren.

Mantras oder formelhafte Vorsätze und bildhafte Vorstellungen können helfen, den Zustand der mentalen Empfänglichkeit wiederherzustellen, wenn störende Faktoren von außen Ablenkung, Frustration oder einen negativen inneren Dialog auslösen und dadurch einschränkende Verhaltensmuster und Gewohnheiten in den Vordergrund treten.

Um das Beste aus den vor und während des Fluges verfügbaren Informationen machen zu können ist es erforderlich, eine Verbindung aufzubauen sowohl mit dem kollektiven Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess der Segelfliegercommunity um uns, als auch mit den unbewussten Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen (der Intuition) in uns. So erweitert sich unsere Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungskapazität in beide Dimensionen.

Umgang mit Erwartungen

Der Dalai Lama, ein versierter Beobachter der menschlichen Natur, hatte einmal das Vergnügen, in einem berühmten japanischen Zen-Kloster vor einem ausgewählten Publikum führender buddhistischer Denker und Würdenträger zu sprechen. Er fühlte dass er in seiner Rede seinen Gedanken den richtigen Ausdruck zu verleihen vermochte und richtigen Ton traf für die erlauchten Zuhörerschaft. 

Als er seinen Vortrag endete, breitete sich eine feierliche Ergriffenheit und ein glückseliger Einklang über den Raum aus und der Dalai Lama wurde von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt.

Kurz darauf erhoben sich zwei hübsche junge Frauen in traditionellen Kimonos und kamen durch den Mittelgang auf ihn zu. Sie trugen vor sich kunstvolle traditionelle Ikebana Blumengestecke und der Dalai Lama erhob sich, um die Ehrung in Empfang zu nehmen. Die Mädchen tippelten links und rechts um Ihn herum und legten die Blumengestecke auf den Knien am Schrein hinter Ihm nieder.. „In diesem Moment", gibt der Dalai Lama zu, „war ich etwas frustriert und wurde blind für die Harmonie und die erhabene Schönheit um mich herum. Warum? Ganz einfach, weil ich erwartet hatte, dass die Blumen für mich gedacht waren."

Dergestalt ist das Wesen falscher Erwartungen und der daraus folgenden Frustrationen - sie entstehen aus dem Nichts und umnebeln die eigene Wahrnehmung. Nicht gut für Piloten von Segelflugzeugen, die empfänglich dafür sein müssen, was die Natur ihnen in Form von Gelegenheiten anbietet, um ihrem Pfad geschickt und flink weiter zu folgen.

Ein einfaches Beispiel: Wenn Du vor Frust so lautstark fluchst, dass Dein Atem das Cockpit beschlägt, weil der „Standard-Aufwind" nicht gekommen ist wo Du ihn in diesem Moment erwartet und und gebraucht hast, dann bist Du blind für den Dohlenschwarm, der gerade eben über dem kleinen Gipfel ein paar hundert Meter weiter nördlich himmelwärts schießt. Hättest Du Dir gesagt „Hmm, interessant, ich muss etwas übersehen haben" und hättest Du begonnen, Dich offen und neugierig umzusehen, ohne eine Wolke oder ein anderes Segelflugzeug zu erwarten, dann hättest Du vielleicht die Vögel gesehen und einen besseren Aufwind erwischen können, als Du erwartet hast.

Das ist der Grund weshalb Du - falls Du im Segelflug weiterkommen möchtest - richtig mit Deinen Erwartungen umgehen und Dein mentales Modell anpassen musst, um Frustrationen zu vermeiden. Piloten, die ihre eigenen mentalen Barrieren überwinden möchten, können einen Anfang damit machen, den alten Pilotenspruch „Erwarte immer das Unerwartete" neu zu interpretieren und in einer neuen Einstellung zusammenzufassen: „Höre damit auf, Dich zu sehr auf das zu versteifen, was Du willst, sondern empfange dankbar, was Du bekommst".

Die Stimme der Intuition

Das zu lange Festhalten an einer falschen Erwartung und das Bestehen auf einer fehlerhaften inneren Repräsentation einer spezifischen meteorologischen Wirklichkeit hat mich vor zehn Jahren in einem Föhnsturm fast das Leben gekostet. Das ist wohl der Grund, warum ich über dieses Thema mehr meditiert habe als die meisten anderen Piloten. Ich habe dadurch nicht nur Einsichten über die Gefahren falscher Erwartungen gewonnen, es hat mir auch geholfen, Zugang zu den Verarbeitungskapazitäten meines unbewussten Selbst zu bekommen - oder, in anderen Worten - ich habe dadurch gelernt, auf meine „Intuition" zu hören.

Interessanterweise hat der Schock des Unfalls einen Dialog zwischen meinem bewussten Selbst und meinem unbewussten Selbst in Gang gebracht. In den Flügen nach dem Unfall hat mein unbewusstes Selbst nicht mehr vollständig auf mein bewusstes Selbst vertraut, das „uns beide" „wissentlich" in den Unfall gesteuert hatte (ähnlich einem Rennfahrer, der nach einem Unfall kein Rennen mehr gewinnen kann, weil die Verbindung zu den erfolgsrelevanten Reflexen seines unbewussten Selbst blockiert ist).

Bei der geringsten Herausforderung oder beim leisesten Zweifel während eines Fluges reagierte „es" mit unangemessen hohem Puls und allen möglichen Alarmsignalen des Körpers, während mein Kopf klar und Herr der Situation blieb. Zu dieser Zeit musste „ich" mein unbewusstes Selbst buchstäblich beruhigen und „ihm" erklären, dass alles in Ordnung war und dass ich Verständnis hätte für seine Reaktion. „Wir" mussten „uns" gewissermaßen erst gegenseitig vergeben und lernen, den Austausch der Ansichten „des jeweils anderen" zu respektieren, um weiterzukommen.

Natürlich mag das für einen nüchtern denkenden Menschen alles etwas seltsam anmuten, aber das Resultat war, dass ich verstand, dass mein unbewusstes Selbst jeder Bewegung und Entscheidung folgt, die „ich" im Segelflieger mache, während „es" die Erfahrungen verarbeitet und daraus in einer unterschiedlichen, ergänzenden Qualität lernt, während es gleichzeitig ständig mit meinem bewussten Selbst kommuniziert.

Einige Menschen nennen das Bauchgefühl oder „mit dem Hintern fliegen" - und es ist möglich, die Intuition weiter zu kultivieren und auf die enormen Verarbeitungskapazitäten des unbewussten Selbst in einer Weise zurückzugreifen, die weit weit über das landläufige Erfühlen der Thermik „mit dem Hintern" hinausgeht.

Aber noch mal - Du musst in einem entspannten und empfänglichen Zustand sein, um die inneren Kommunikationskanäle offen zu halten, ähnlich wie in einer Partnerschaft. (Ich möchte an dieser Stelle meiner Lebensgefährtin für die folgende Einsicht danken: Jede Frau kann bestätigen, dass Männer für sie zuweilen vergleichsweise blind erscheinen, was den Seelenzustand und die feineren Signale der Menschen um ihn herum angeht und dass man als Mann meist gut beraten ist, seinen Partner zu konsultieren, bevor man Entscheidungen trifft, die die Befindlichkeit anderer Menschen betreffen.

Man nimmt Situationen je nach Stimmungslage in einem etwas anderen Licht wahr. Nun scheint es in der Natur der Frau zu liegen scheint, dass sie Ihre Stimmungslage und damit Ihre Perspektive deutlich mehr modulieren und so Ihre Umgebung mit einer Art Radarstrahl ausleuchten und das menschliche Beziehungsgeflecht unter einem breiten Wellespektrum untersuchen. Dadurch nehmen sie „Vibrationen" unterschiedlicher Qualität als Männer und sehen z.B. oft feinere Facetten der nicht verbalen Kommunikation, was ihnen zu helfen scheint, ihre Rolle als verbindendes und sorgendes Element in der Gesellschaft besser auszufüllen.)

Mein mentales Modell, das ich aus dieser Sichtweise daraus abgeleitet habe, besteht in der Einsicht, dass Entscheidungsprozesse an Tiefe, Qualität und Geschwindigkeit gewinnen, wenn man es fertig bringt, die Eingaben des unbewussten Selbst wie die eines komplementären Partners zu akzeptieren und bei der Entscheidungsfindung die Intuition zu befragen. Man kann auch sagen, dass es hilfreich ist, steigender Komplexität dadurch zu begegnen, dass man ihr größere Vielfalt in der Wahrnehmung entgegensetzt. In vielen Situationen wirst dann Du einfach „wissen", was zu tun ist.

Bleibe nur empfänglich für die Stimme der Intuition.

Kalibrierung der mentalen Empfänglichkeit

Das Konzept des „Zustandes der mentalen Empfänglichkeit" wurde schon einige Male erwähnt. Ein ebenso wichtiger Faktor ist die Fähigkeit, diesen Zustand der Offenheit anzupassen und wiederherzustellen, wenn äußere Faktoren zu Ablenkung, Frustration, einem negativen inneren Dialog und begrenzenden Verhaltensmustern führen. 

Daniel Nipkow, ein Freund und früherer Weltmeister im Schießen nannte „formelhafte Vorsätze und bildhafte Vorstellungen", andere Menschen, die Spitzenleistungen vollbringen, nennen es „Prozedur", „Mantra", „Anker" - einen Auslöser, den man verwendet, um willentlich bei Bedarf dasjenige Bewusstsein und den mentalen Zustand wieder hervorzurufen, den man vorher mit einem solchen Auslöser verbunden hat.

Ein Beispiel: Bei schwierigen Aufgaben und weiten Flügen, die an die Grenzen des eigenen Könnens und der meteorologischen Möglichkeiten gehen, wird man irgendwann unweigerlich mit Zweifeln an seiner Fähigkeit, die Aufgabe zu erfüllen und zum Platz zurückzukehren konfrontiert. Man beginnt zu wanken und gibt entmutigenden Informationen Raum, wie etwa der Nachricht vom Kollegen, der wegen eines Gewitters außengelandet ist oder lässt sich etwa von der Freundin ablenken, die unerwartet auf dem Handy anruft und erzählt, wie andere „normale" Paare romantische Sommerabende am Seeufer verbringen, während sie wieder mal alleine zu Hause sitzt. Wenn solche Zweifel auftauchen und abzulenken beginnen, kann der optimale mentale Zustand mit Hilfe von Auslöserphrasen oder Mantras wiederhergestellt werden.

Ein einfaches Mantra, das mir hilft, wenn mich Ende langer Flüge Zweifel an der Machbarkeit beschleichen:

„Solange es sicher ist, ist es nicht vorbei, bevor es vorbei ist".

Das bringt all meine Erinnerungen an Sicherheitserwägungen und thermische Aktivität in den Abendstunden zurück und versetzt mich in einen entspannten und empfänglichen Zustand, den ich zuvor mit diesem Mantra verbunden habe. Der Zweifel, die Gefühle der Ermüdung und der blindmachende Ehrgeiz, die Aufgabe abzuschließen, machen dem „Abendthermik-Forscher" in mir Raum, der am Ende eines thermisch aktiven Tags spielerisch und voller Neugier die vielen faszinierenden meteorologischen Phänomene entlang des Weges beobachtet und erfährt und der nur sicher fliegen muss und sonst keinen Erfolgsdruck oder Sorgen hat. Und in den meisten Fällen habe ich damit Spaß beim Heimflug und komme ohne viel Zittern und hoch genug am Platz an, lange nachdem die meisten Piloten ihre Flüge beendet haben.

Ein anderes Mantra, das ich verwende, um schnell über zeitraubende Fehler hinwegzukommen und meinen Weg wieder im alten Takt und in einem empfänglichen Zustand fortzusetzen, ist:

„Ein Rekordpilot kann mit solchen Fehlern umgehen und freut sich darüber, später aus ihnen zu lernen".

Das erinnert mich daran, dass a) ich es genieße meine Energie spielerisch auf solche Herausforderung zu verwenden - immerhin freue ich mich das ganze Jahr auf solch gute Flugtage - und b) wird dadurch meine Zuversicht schnell wieder hergestellt, zumal es mich daran erinnert, dass ich häufig trotz Fehler dennoch weiter geflogen bin als andere. Und schließlich c) höre ich damit auf, zu versuchen den Fehler wegzuerklären (und damit Energie für einen negativen inneren Dialog und Reduktion von kognitiver Dissonanz zu verschwenden) und verschiebe das Grübeln auf die Zeit nach dem Flug, wenn erfahrungsgemäss sowieso mehr dabei rauskommt...

Will man sich von der Normalverteilung der Pilotenleistungen, bestimmt durch übliche Faktoren wie Erfahrung, Talent, Wetter und Glück systematisch und nachhaltig absetzen, geht das nur über das Prozessieren einer wesentlich größeren Menge an Rohdaten und damit verbundener Entscheidungen. Alles was die Wahrnehmung einengt, wie z.B. falsche vorgefasste Meinungen, Überehrgeiz, Frustrationen, Zweifel, negativen inneren Dialog, Sauerstoffmangel, Stress über ein anregendes Maß hinaus etc. gilt es durch geeignete Maßnahmen zu minimieren und den Zustand der Empfänglichkeit und Offenheit zu maximieren.

Versuche also, Dir eigene Mantras auszudenken und sie auf Deine persönlichen Bedürfnisse und Herausforderungen maßzuschneidern - was zählt, ist der Gedanke der mentalen Vorbereitung auf einen Flug und die Fähigkeit, auf Abruf einen geeigneten mentalen Zustand wiederherzustellen zu können. (Und es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang natürlich auch rechtzeitig Sauerstoff zu nehmen, damit alle Hirn- und Nervenzellen auch in der Höhe in Bestform bleiben).

Die Freuden des Teilens

Dank der Online-Publikation von GPS-Logdateien im Internet wurde die Gemeinschaft der Segelflieger zu einer Art Über-Organismus, (wie ein Bienenstock oder ein Ameisenhaufen), der wenn er an sonnigen Tagen über den Alpenbogen krabbelt die Charakteristiken seiner spezifischen Umgebung durch die Erfahrungen seiner individuellen Mitglieder erfühlt, erforscht, verinnerlicht und kommuniziert.

Das Schöne daran ist, dass dieses gemeinschaftliche Lernen zu höherer Einsicht führt und die Grenzen des individuellen Bewusstseins und damit des Möglichen erweitert. Letztlich setzt sich das Unmögliche aus dem Möglichem zusammen - und Flüge, die zuvor als unmöglich galten, kommen durch neue Lern- und Kommunikationsmöglichkeiten nun plötzlich in den Bereich des Möglichen.

Das Teilen von Erfahrungen und Information und der Austausch der entsprechenden inneren Repräsentation der Wirklichkeit (das mentale Modell) ist in meinen Augen in einigen Segelfluggemeinschaften - wie etwa in Österreich - schon seit einiger Zeit weiter fortgeschritten als in anderen. Schaut man auf die Resultate, hat den Anschein, als würden solche „sich mitteilenden" Gemeinschaften nachhaltig bessere Leistungen erbringen als andere mit einem „herkömmlichen" Denkansatz, der für diese „weichen" Faktoren weniger aufgeschlossen ist.

Das Teilen von Erfahrungen ist ohnehin schon an sich etwas zutiefst Erfüllendes und es hat durch die Verbindung über das Internet eine neue Qualität bekommen. In vielerlei Hinsicht sollte es damit möglich sein, mit den heute verfügbaren Informationen die Leistungen im Segelflug weiter zu steigern. Wir können durch die Zusammenführung neuer Möglichkeiten die bisher gesteckten Unmöglichkeiten überwinden und die Erfahrungen mit anderen auf unserem Weg teilen.

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