50 Kilometer
Diesen Text habe ich unmittelbar nach meiner praktischen Prüfung geschrieben. Über manches muss ich heute im Rückblick lächeln, weil mir auffällt, wie sich meine Sicht seitdem geändert hat. Trotzdem möchte ich den Text genauso veröffentlichen, wie ich ihn damals geschrieben habe, schon weil er einige der Barrieren demonstriert, die ich in "Der Sprung zum Alpenstreckenflug" beschrieben habe.
Es ist ein perfekter Tag. Das Wetter ist herrlich, kleine Kumuluswolken stehen über den Berggipfeln – gute Thermik. Ich bin ausgeglichen und zufrieden, ich will an diesem Tag nichts erreichen, ganz im Gegensatz zu den Tagen davor, an denen mich Ungeduld und Ehrgeiz plagten und mir die Ruhe für mein großes Ziel stahlen: Den Streckenflug über 50 Kilometer, den letzten und wohl auch schwierigsten Prüfungsabschnitt auf dem Weg zum Segelflugschein.
Schwierig
ist die Sache vor allem deshalb, weil man nun zum ersten Mal etwas tun muss, das
einem Flugschüler klar und präzise untersagt ist: Die Umgebung des Flugplatzes
zu verlassen, außer Sichtweite des sicheren Platzes zu fliegen und sich auf das
eigene Wissen und Können verlassen zu müssen. 50 Kilometer, das bedeutet
Thermik zu finden, sie zu nutzen, Höhe zu gewinnen und bestimmte
Pflichtwendepunkte zu erreichen. Und es bedeutet vor allem, eine ganze Reihe von
inneren und äußeren Grenzen zu überschreiten und Neuland zu begehen.
Vor
meinem eigenen Versuch, die 50 Kilometer zu fliegen, hatte ich schon ein paar
unerlaubte Erfahrungen gesammelt: An einem wunderschönen Flugtag hatten mich
die Thermik und die Begeisterung fortgetragen, ich hatte fast unwissentlich die
Grenze nach Österreich überflogen und war erst umgedreht, als ich den Platz
schon längst nicht mehr sehen konnte. Dieser unabsichtliche Streckenflug hatte
mir ein paar wesentliche Lehren erteilt und ich hatte einen der erfahrensten
Flieger am Platz gebeten, mich auf einen Streckflug mitzunehmen. Dieser dreistündige
Flug wurde zur intensivsten und wertvollsten Einzellektion, die ich bis dahin je
beim Fliegen bekommen habe.
Nun
aber ist es so weit – ich kann mich nicht mehr auf fremde Hilfe oder auf die günstige
Wendung des Schicksals und einen zufällig getroffenen guten Flugtag verlassen.
Ich weiß, wie oft viele erfolglos versucht hatten, diese 50 Kilometer zu
fliegen, bis es endlich geklappt hatte. Mein Vorteil ist allerdings, dass ich
wegen meiner Körpergröße die Strecke mit einer PW-5, einer sehr modernen und
leistungsfähigeren Maschine fliegen darf, im Gegensatz zu allen anderen, die
mit einer K8, einem weniger performanten Schulflugzeug antreten müssen. Ich
passe schlicht nicht in diese kleinen Flieger. Zum Ausgleich habe ich mir
vorgenommen, freiwillig eine wesentlich längere Strecke zu fliegen.
Schon
seit Tagen hatte ich mich gut vorbereitet, etwa durch Studium der
meteorologischen Vorhersagen. Deshalb und auch nach meinem eigenen Eindruck des
Wetters über dem Platz bin ich an diesem Tag überzeugt, dass das Wetter für
50 Kilometer reichen müsste – sehr im Gegensatz zu manchen anderen am Platz,
die meinen, das Wetter sei suboptimal, die Wolkenbasis zu niedrig und die
Thermik nicht ausreichend. Aber ich habe eine große Ruhe in mir an diesem Tag
und fast schon die Gewissheit, dass es klappen wird. Schon an den Tagen zuvor
hatte ich die Strecke fliegen wollen, aber das Wetter hatte nicht mitgespielt.
Dies ist also mein erster Versuch.
Das
mit der Ruhe war eigentlich ein Wunder, denn als ich am Platz ankomme, wurde es
fast schon hektisch. Tom, der mit mir die Ausbildung macht, ist schon da und
ruft mir zu, er würde starten und es auch versuchen. Er bietet sich sogar an,
den Zylinder meines Barographen für mich zu schwärzen, damit ich meine
Maschine in der Zwischenzeit fertigmachen kann. So kommt es, dass ich nur wenige
Minuten nach Ankunft am Platz schon in meiner Maschine sitze und von der Winde
in den blauen Himmel hinaufkatapultiert werde.
In
diesem Moment vergesse ich mein Ziel vollkommen. Das ist eine der Faszinationen
des Fliegens für mich: Im Moment des Abhebens lasse ich alles hinter mir, das
mich auf der Erde beschäftigt oder belastet. Das Fliegen ist ein Moment
vollkommener Freiheit und Losgelöstheit.
Nach
nur wenigen Schleifen am Hang habe ich so viel Höhe gewonnen, dass ich beschließe
abzufliegen, zum sogenannten Hausbart, einer verlässlichen Thermik, die den
Fahrstuhl in die für Streckenflug nötige Höhe darstellt. Sie trägt mich wie
eine Feder nach oben. Die Kampenwand versinkt unter mir und der Horizont breitet
sich aus, als sei ein Vorhang emporgehoben worden. Erst jetzt kommt der Gedanke
an die Strecke zurück, mit einem eisigen Schreck: Ich höre kein Ticken von
hinten – ist der Barograph angeschaltet? Nach Minuten der Sorge und
angestrengtem Lauschen höre ich schließlich das beruhigende Tick-Tack des
kleinen Uhrwerks, das den Zylinder meines einzigen Beweismittels antreibt. Das
von ihm aufgezeichnete Höhenprofil entscheidet darüber, ob die Strecke vom
Luftamt anerkannt wird oder nicht.
Die
Basis ist mit 1300 Meter über Grund sehr niedrig, grenzwertig für die Strecke
(zumindest nach meiner damaligen Meinung). Aber über jedem Berg stehen Kumuli und ich bin überzeugt davon,
dass ich es schaffen kann. Ich fliege die Kampenwand entlang, der erste
Streckenpunkt ist der Hochries, auf der anderen Seite des Prientals. Aber über
dem Hochries ist kein einziges Wölkchen zu sehen und ich möchte nichts
riskieren. Also nehme ich lieber eine Alternativstrecke. Vielleicht hinunter ins
Kaisergebirge? Ich fliege Richtung Geigelstein. Eine Fehlentscheidung, wie sich
herausstellt – mit 1300 Meter habe ich nicht genug Höhe. Also zurück an die
Kampenwand, wo ich mir die verlorene Höhe zurückhole und überlege. Im Osten
stehen überall schöne hohe Kumuli über den Bergen, und dort ist das Gelände
niedriger. Damit steht die Route fest – ich fliege hinüber zum Hochgern.
Am
Hochgern ist kaum Thermik zu finden – mit klammem Herzen taste ich herum und
finde schließlich im letzten Moment einen zaghaften aber rettenden Aufwind, der
mich mit einem halben Meter pro Sekunde nach oben trägt. Aber die Hartnäckigkeit
lohnt sich – nach einer Weile habe ich wieder meine 1300 Meter erreicht und
fliege weiter. Von nun an geht es prima – direkt unter der Basis der großen
schönen Wolken ziehe ich ruhig dahin und verliere kaum Höhe, weil ich immer
wieder weite Aufwindfelder durchfliege. Ich kann nahezu eine gerade Linie
fliegen, statt mir durch zeitraubendes Kreisen immer wieder neue Höhe holen zu
müssen.
Ich
fliege nach Osten zum Hochfelln und von dort weiter fast direkt nach Süden zum
Gurnwandkopf, einem sehr schönen Gipfel, um den herum die Ruinen einiger alter
Almen liegen. Direkt am Gurnwandkopf fällt das Gelände steil ab zu einer
idyllischen Gruppe von Bergseen. Dieser Abfall ist auch Ursache für einen
zuverlässigen, starken Hangwind, in dem ich nun kreise und den Moment voll
auskoste: Vor mir liegt das atemberaubende Panorama der Berge, der weite Himmel
und das grandiose Schauspiel der schönen weißen Wolken, die wie kleine Schiffe
auf einer unsichtbaren Oberfläche segeln. Zum ersten Mal fühle ich, dass ich
mich auf mein Wissen und auf die Thermik verlassen kann. Ich schwimme in einem
unbeschreiblichen Gefühl der Leichtigkeit und des Glücks, fast ist es eine
Euphorie. Und es geht so leicht! Unter jedem dieser Watteschiffchen am Himmel
steht ein zuverlässiger „Bart“. Ich brauche nur unter den Wolkentürmchen
entlang zu fliegen.
Der
starke Aufwind, in dem ich zusammen mit einem anderen Segelflugzeug kreise, ist
Ursache für eine Verstärkung meines Hochgefühls. Ich fliege! Streckenfliegen
ist nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt habe! Und außerdem ist die
Basis hier etwas höher, womit ich größere Reserven für eine sichere Heimkehr
habe. Denn ich möchte nach Möglichkeit immer genug Höhe behalten, um im
Notfall im Gleitflug direkt zum Platz zurückkehren zu können. Mit zunehmender
Entfernung brauche ich auch mehr Höhe.
Ich
erreiche fast 1500 Meter, bevor die ersten Wolkenfetzen anfangen, nach meiner
Maschine greifen. Das ist ein beruhigendes Polster, mit dem ich weiter nach Süden,
Richtung Steinplatte und Loferer Steinberge fliegen kann. An der Steinplatte überfallen
mich Zweifel an meiner eigenen Courage. Erstens bin ich nun schon in Österreich
(und gar nicht sicher, ob ich auf einem Prüfungsflug überhaupt die Grenze überschreiten
darf) und zweitens ist das Gelände hier deutlich höher. Ich finde nicht gleich
die Thermik und jeder Meter Höhenverlust macht mich nervös – schaffe ich es
im Notfall noch zurück?
Nach
einer Weile wird mir der Stress zu groß, ich entscheide mich für ein
Experiment – probieren geht über studieren. Ich fliege zurück zum
Gurnwandkopf und merke, wie wenig Höhe ich für die Rückkehr brauche. Das
hatte ich mir zwar schon auf dem Hinweg gemerkt, aber ich wollte es eben wissen.
Rein versuchsweise setze ich meinen Rückflug zum Platz fort, bis ich am
Rechenberg wieder in Sichtweite des Platzes bin, mit sehr komfortabler Höhe,
viel höher als gedacht. Jetzt, wo ich die Gleitfähigkeit der Maschine unter
den herrschenden Bedingungen auch wirklich in der Praxis ausprobiert habe, fühle
ich mich wesentlich entspannter und fliege über den Gurnwandkopf zurück zur
Steinplatte – mit dem für einen Prüfungsflug verrückten Plan, an die
Loferer Steinberge zu fliegen. Aber auf dem Weg verlässt mich aber die
Zuversicht – bei der niedrigen Basis will ich nichts riskieren. Also drehe ich
an der Steinplatte ein paar Runden und revidiere meine Pläne. Im Westen sieht
es gut aus, und außerdem hatte ich angekündigt, bei meiner selbstauferlegten
Verlängerung der Strecke auch zum Wilden Kaiser zu fliegen (was etwa eine
Verdoppelung der Strecke bedeutet). Zwar bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich
es wirklich schaffe, aber ich halte es für machbar und einen Versuch ist es auf
jeden Fall wert. Außerdem kann ich jetzt den Flugplatz von St. Johann in Tirol
sehen – eine gute Ausweichmöglichkeit, falls doch etwas schief gehen sollte.
Aber ich habe, wenigstens im Moment noch, ausreichende Höhe auch für den Rückweg
nah Hause.
Auf
dem Weg zum Wilden Kaiser geht das Wechselbad der Gefühle wieder los – hier
herrscht starkes Fallen, ich verliere sehr schnell Höhe. Aber vor mir liegen
Kumuli, denen ich vertraue. Also beiße ich die Zähne zusammen und setze mir
eine Sicherheitshöhe als Grenze: Wenn ich diese Höhe unterschreiten sollte,
gebe ich den Kaiser auf und fliege direkt nach Unterwössen zu meinem Platz zurück,
die 50 Kilometer habe ich schließlich längst und mit dickem Aufschlag im Sack.
Aber es klappt: Auf halbem Weg zum Kaiser erwische ich eine schwache aber
nutzbare Thermik, die mich schließlich nach einigem Kurbeln wieder an die
Unterseite der Wolken bringt. Von dort aus erreiche ich den Kaiser.
Nach
der Pflicht kommt für mich jetzt die Kür – ich vergesse vollkommen, dass ich
auf meinem wichtigsten Prüfungsflug bin und genieße die grandiose Bergkulisse
des Kaisers. Ich fliege immer wieder an dem wuchtigen Massiv entlang und kann
mich kaum satt sehen. Ein tiefes Glücksgefühl ist in mir. Voll Zufriedenheit
schwebe in sanften Kreisen über die Flanken des Wilden Kaisers und kann mein Glück
nicht fassen. Es gibt nur sehr wenige Momente in meinem Leben, in denen ich mich
ähnlich gelöst, glücklich und zufrieden gefühlt habe.
Eine
Weile kann ich die Höhe noch halten und den Ausblick genießen, dann beginnt
die Thermik nachzulassen. Es wird mühsam sich zu halten und ich sitze nun schon
fast drei Stunden in meinem Flieger. Als ich schließlich auf 1300 Meter
gefallen bin, habe ich genug und gehe auf direkten Kurs zurück zum Platz.
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Meine
Flugroute. Damals habe ich sie ausgemessen - die reine
Streckenlänge beträgt 133 Kilometer, aber im echten Dreieck
(bzw. Vieleck) ist die Strecke natürlich kürzer.
Tom
ist schon gelandet – auch er hat heute die 50 Kilometer geschafft und ist überglücklich.
Wir beide stehen staunend und fassungslos vor unserem Glück und unserem Erfolg.
Erst ganz langsam beginnen wir auch im Kopf zu begreifen, dass wir es geschafft
haben. Wir fallen uns an diesem Nachmittag mehrfach in die Arme und sehen uns
immer wieder in fassungslosem Glück gegenseitig an, als seien wir ein frisch
verliebtes Pärchen. Selbst als ein paar Stunden vergangen sind und wir am Abend
noch mit anderen Fliegerkameraden bei einer Flasche Bier zusammenstehen, sind
wir noch wie in einem Traum.
Ein
paar Tage später absolviere ich meine praktische Prüfung. Ein Prüfer kommt
aus Mühldorf und steigt mit mir zusammen in den guten alten Blanik, das
Flugzeug, auf dem ich das Fliegen gelernt habe und an das ich so viele schöne
Erinnerungen habe. In ihm habe ich meinen ersten Flug gemacht und in ihm werde
ich nun meine Ausbildung nun auch abschließen.
Die
Prüfung ist enttäuschend unspektakulär. Als ich nach den drei völlig
ereignislosen Prüfungsflügen aussteige, bin ich fast traurig, dass dieses
Ziel, auf das ich so lange hingearbeitet habe und in das ich so viel Zeit,
Leidenschaft und Hoffnungen investiert habe, nun so profan ist. Viele Menschen
kommen auf mich zu und drücken mir die Hand, sogar Fliegerkameraden, die ich
noch nie gesehen habe. Trotzdem muss ich versuchen, meine Enttäuschung zu
verbergen und kann mich gar nicht richtig freuen. Mir wird klar, dass mein
bisher größter fliegerischer Erfolg und auch mein emotional stärkstes
Flugerlebnis bis zu dieser Stunde mein Streckenflug war. Ich hatte keine Ahnung,
dass das Fliegen, die Schönheit und das Glück nun erst richtig beginnen
sollten...
Meine
ersten Flüge als Scheininhaber waren Streckenflüge. Erst jetzt konnte ich mich
darüber freuen, völlig frei und ohne Auflagen zu fliegen. Ich flog mit einem
wesentlich leistungsschwächeren Flugzeug meine Prüfungsstrecke nach und konnte
mein Glück nicht fassen: Keine Vorgaben, nur die Maschine, der weite Himmel und
ich, Inbegriff der Freiheit. Und ich wunderte mich, wie einfach jetzt alles
schien, jetzt, da Streckenflug kein Neuland mehr war.
Kurz darauf überschritt ich die nächste große Grenze – das bewusste Verlassen des Gleitbereichs zum sicheren Platz – einschließlich der Inkaufnahme einer Außenlandung auf einer Wiese in unbekanntem Gelände. Und nachdem auch das hinter mir liegt habe ich plötzlich wieder das Gefühl, ganz am Anfang zu stehen – am Anfang eines großen, wunderschönen Erlebnisses. Jetzt beginne ich endlich mit dem Fliegen – auch wenn ich während meiner Ausbildung so oft dachte, ich könnte es schon.
Kommentare aus heutiger Sicht
Wie gesagt, ich muss über manches heute lächeln. Es war ein wunderschöner Tag und wie gemacht für die Strecke. Ich hätte an diesem Tag problemlos bis zum Alpenhauptkamm und zurück fliegen können, in der selben Zeit. Aber ich habe mich mental ständig mit dem Problem des Zurückkehrens zum Platz beschäftigt, und das hat dazu geführt, dass ich am Anfang trotz den immer wieder gemachten Plänen mehr oder weniger ziellos in der Gegend herumgekrebst bin. Ich habe mich erst sicher gefühlt, als ich das Gleitvermögen der PW-5, die mir damals im Vergleich zum Super-Blanik L-23 noch wie ein Gleitwunder erschien, ausprobiert hatte.
Auf meinem Weg zum Kaiser aber ist das passiert, was jedem passieren muss, der den Sprung zur Strecke macht: Ich habe nur noch gesehen, was vor mir liegt, ich wusste, dass die Thermik mich tragen würde, denn sie hatte mich die ganze Strecke über komfortabel und zuverlässig getragen. Ich vergaß meine ganzen Ängste und fing zu fliegen an.
Dieser Moment war - neben meinem Streckenflug mit einem erfahrenen Flieger - einer der wichtigsten Punkte auf meinem Weg zur Strecke.
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