Wie ich zum Fliegen kam

von Detlev Hoppenrath

Zu den wenigen Bildern, die aus den verwischten Erinnerungen meiner Jugend in den österreichischen Bergen auftauchen, gehört der Spätsommer mit seinen wunderbaren Wolkentürmen. Ihre unendlichen Wandlungen und Formen haben mich schon als Kind fasziniert. Ich saß oft oben am Berg über unserem Haus und sah hinunter ins Tal, wo die Bauern die Ernte einfuhren. Ein paar Bauern hatten in den frühen Jahren noch Pferde und ich liebte es, ihnen von oben zuzusehen.

In der ganzen Natur um mich herum war zu spüren, dass der Sommer zu Ende ging. Ich fühle es noch heute mit der selben Intensität wie damals als Kind – die schwere, träge Luft ist anders und trägt schon eine Vorahnung der klaren Herbsttage in sich. Eine heiße Schwere liegt über dem Land, die Insekten scheinen lustloser und die Bauern beeilen sich, ihre Fuhren in die Scheune zu bekommen. Über den ganzen Horizont breiten sich die Wolken aus, erst nur ein paar kleine, die dann wachsen, bis Arme und Köpfe aus ihnen nach oben schießen.

Am schönsten war es, wenn ich genau in Höhe der Wolkenuntergrenze saß – die Wolken glichen dann Schiffen, die auf der unsichtbaren Oberfläche eines grenzenlosen Meeres segeln. Und ich fühlte mich, als wäre ich zwischen ihnen und würde aus ihnen herab auf die Erde sehen und zusammen mit ihnen von Horizont zu Horizont gleiten.

So ist in mir die Sehnsucht nach dem Fliegen entstanden.

Und seit damals träume ich vom Fliegen. Aber es ist mehr als eine Sehnsucht – es ist eine Art Gewissheit – als könnte ich schon seit Urzeiten fliegen und wäre nur zu einer kleinen Pause auf dem Boden verurteilt. Und doch – es hat seit damals noch dreißig Jahre gedauert. Erst hatte ich kein Geld. Dann hatte ich das Geld, aber keine Zeit mehr.

Doch eines Tages war es dann so weit: Ich hatte genügend Geld und genügend Zeit. Und da ich es mir ja nun leisten konnte dachte ich, es wäre es angebracht, nun gleich "richtig" fliegen zu lernen, mit Motormaschinen. Ich hatte alle meine Sehnsüchte von stillen Gleiten vergessen. So kam es, dass ich eines Tages im lauten Tosen von abhebenden Maschinen auf einem Flugfeld stand, das nach Kerosin roch und in eine Cessna 172 stieg.

Wir waren uns von Anfang an nicht sympathisch. Mich faszinierten zwar die vielen Instrumente und die Komplexität der ganzen Angelegenheit, aber es lenkte auch vom Fliegen ab. Außerdem konnte ich beim besten Willen kein Gefühl für die Maschine entwickeln, ich empfand sie als schwerfällig, unelegant, schon fast bösartig widerspenstig. Sie blieb mir fremd und undurchschaubar. Sogar grundlegende Dinge wollten mir nicht gelingen – etwa Starts und vor allem die Landungen. Ich begann zu zweifeln, ob Fliegen überhaupt etwas für mich sei.

Noch etwas anderes kam dazu: Da man mit Motormaschinen auf mehr oder minder großen Flugplätzen startet (in meinem Fall war es München, einer der betriebsamsten Plätze in Europa) hält man sich üblicherweise zumindest bei Ab- und Anflug in Bereichen auf, die bestimmten Beschränkungen unterliegen. Mit anderen Worten: Man kann nicht so fliegen, wie man möchte, sondern muss für jede Flugbewegung eine Erlaubnis einholen und sich an Auflagen der Flugkontrolle halten.

So hatte ich mir das Fliegen überhaupt nicht vorgestellt. Ich wollte frei sein. Ich wollte mich in der Luft nicht mit einem Riesensortiment an Navigationsgeräten, Transpondern und verschiedenen Anzeigen befassen müssen. Ich wollte keine Freigaben von anonymen Controllern einholen müssen und ständig darauf achten, ob mich nicht eine andere Maschine vom Himmel holte. Wie die Wolken wollte ich gleiten, still, bedächtig, fast verträumt, von Horizont zu Horizont.

Die Entscheidung fiel kurz nach meinem ersten Alleinflug: Ich wäre um ein Haar verunglückt. Das geschah so: Im Landeanflug auf Eggenfelden sah ich eine Schar Möven am Beginn der Landebahn. Da ich mir lebhaft vorstellen konnte, was passieren würde, wenn ich sie überflog, brach ich die Landung ab und startete durch. Durch das Geräusch des aufheulenden Motors stiegen die Vögel auf, was mich dazu veranlasste, meine Entscheidung zu revidieren und den Landeanflug fortzusetzen. Kurz vor dem Aufsetzen gingen meine Augen noch einmal alle Instrumente durch - und ich bekam einen eisigen Schrecken: Ich war viel zu schnell, ich hatte vergessen, die Klappen wieder auszufahren. Dennoch versuchte ich aufzusetzen, annähernd doppelt so schnell wie vorgeschrieben. Das Resultat war, dass meine Maschine ins Schleudern kam, von der Landebahn ins Grüne raste und ich eine Gebüschreihe auf mich zukommen sah. Da meine Geschwindigkeit immer noch bequem zum Durchstarten reichte, zog ich den Flieger wieder hoch, hüpfte ganz knapp über die Büsche hinweg, tauchte unter einer Hochspannungsleitung weg und teilte anschließend dem Tower mit, ich würde nie wieder landen, sondern eher fliegen, bis mir der Sprit ausginge.

Dann kamen noch ein paar ähnlich dramatische Erlebnisse – ein Beinaheabsturz in Landshut, ein Controllerfehler im Anflug auf Friedrichshafen, der mir fast das Leben kostete, eine zu enge Begegnung mit einer Staffel Tornados über dem Chiemsee und ein paar Erlebnisse mehr von dieser Art. Schließlich hörte ich mit dem Fliegen auf – zum einen, weil meine damalige Frau nach diesen Erlebnissen darauf bestand, andererseits weil ich zu viel Abschreckendes und zu wenig Positives erlebt hatte.

Aber auch in den Jahren danach ging mir das Fliegen nicht aus dem Kopf. Wenn ich beruflich im Flugzeug unterwegs war (was sehr häufig der Fall war), sah ich oft den ganzen Flug über aus dem Fenster und freute mich an den Wolken und an der veränderten Perspektive der Erde. Immer, wenn ich die Welt und die Wolken so sah, fühlte ich eine tiefe Sehnsucht. Nach einem mehrstündigen Flug quer über die USA, auf dem ich nicht einmal für das Essen meinen Blick von der Schönheit der Landschaft unter mir abwenden wollte, konnte ich für eine ganze Weile meinen Kopf nicht mehr richtig zurückdrehen – ich hatte Genickstarre. Ähnliches passierte mir bei Flügen über Grönland, wo ich fasziniert das Farbenspiel der riesigen Eisberge beobachtete oder bei den Flügen über die endlose Weite der Sahara mit ihren abwechslungsreichen Farben und Naturfraktalen.

Und wann immer es möglich war, versuchte ich ins Cockpit zu kommen – das ging damals noch ganz einfach. Nach einer Weile kannte ich mich mit allen Flugzeugtypen recht gut aus und traf manchmal sogar schon Besatzungen wieder, mit denen ich schon geflogen war. Vor allem aber erlebte ich viele sehr schöne und spannende Momente in den Cockpits der verschiedenen Airlines: Den unvergesslichen Kometen Hyakutake mit seinem eindrucksvollen Doppelschweif über den Pyrenäen auf einem Lufthansa-Nachtflug nach Madrid, die Begegnung mit Waffenschmugglern über der Sahara, die beinahe zu einem Zusammenstoß geführt hätte, und der nächtliche Anflug auf Paris, bei dem der (französische) Pilot so damit beschäftigt war, mir voller Stolz seine Hauptstadt von oben zu erklären, dass ich zeitweise daran zweifelte, ob er seiner Maschine noch die gebührende Aufmerksamkeit schenkte.

In dieser Zeit begann sich meine Flugsehnsucht neu zu entwickeln und darauf zu besinnen, wonach ich mich eigentlich sehnte: dem stillen Gleiten. Ich entdeckte einen Segelflugplatz in den Bergen, wo Passagierflüge gemacht wurden. Immer wieder fuhr ich hin, aber die Thermik reichte nie für einen längeren Flug. Doch auch auf den kurzen Runden um den Platz merkte ich: das war das stille Fliegen, das ich wollte. Fast bescheiden, ohne großen Aufwand, auf das Nötigste reduziert – und doch um so viel eindrucksvoller. Ein Fliegen, das mit dem Wesentlichen auskommt.

Aber es fehlten mir wieder wechselweise entweder Zeit oder Geld. Ich fuhr trotzdem zu mehreren Segelflugvereinen und fragte nach der Ausbildung. Überall wurde mir gesagt, dass dazu eine Vereinsmitgliedschaft und intensive Mitarbeit erforderlich sei. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte fliegen und nicht Erfahrungen in deutscher Vereinsmeierei sammeln.

Dann hatte ein guter Freund Geburtstag, der so wie ich schon lange vom Fliegen träumte. Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk stieß ich auf die Deutsche Alpensegelflugschule Unterwössen (DASSU), eine der altehrwürdigen Flugschulen in Deutschland. Dort konnte man ohne Vereinszugehörigkeit Fliegen lernen. Und sie bot Schnupperlehrgänge an. Ich fuhr hin, um mich zu informieren und kaufte schließlich einen Schnupperkurs als Geschenk für meinen Freund.

Aber ich hatte auch selbst endlich das gefunden, was ich suchte. Nur – ich hatte nach wie vor kaum Zeit. Doch auch dieses Problem löste sich wenig später: Ich stieg mehr oder weniger aus dem Berufsleben aus und hatte gleichzeitig noch genügend Geld übrig, um mich nur ums Fliegen zu kümmern.

So kam es, dass ich mich eines Tages als Flugschüler anmeldete. Als ich zur obligatorischen fliegerärztlichen Prüfung ging und in der Arztpraxis die Bilder von Piloten und Maschinen sah, die hier die Wände schmückten, war mir, als würde ich eine andere Welt betreten. Ich hatte noch nicht einmal mit der Ausbildung angefangen und kam mir doch schon fast wie ein Flieger vor. Allein die Tatsache, dass ich nun endgültig meinen Weg begonnen hatte, erfüllte mich mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl -  die Bilder um mich herum trugen das ihre dazu bei. 

Einen Tag später saß ich im Auto und war auf dem Weg nach Unterwössen. Die ganze Fahrt über herrschte Aufruhr in meinem Inneren – ich konnte es einfach nicht fassen, dass es so weit war, dass ich endlich die richtige Art des Fliegens gefunden hatte. Diese Begeisterung war damals beim Motorflug nicht in mir gewesen. Nun fuhr ich in strahlendem Sonnenschein auf den Chiemsee und die Berge zu (Unterwössen liegt in einem kleinen Tal südlich des Chiemsees) und schwebte in Gedanken schon hoch über der Landschaft. Wie unfassbar schön musste das sein! Zu fliegen wie die Wolken...

Mit jedem Meter, der mich näher an Unterwössen brachte, wuchs meine Aufregung. Am Ortseingang steht eine große Tafel, das gelb umrandete Segelfliegerabzeichen mit den drei weißen Möven auf blauem Grund, dazu ein Begrüßungstext. Als ich an diesem Schild vorbeifuhr, konnte ich fast nicht mehr stillsitzen.

Der Platz, den ich bei meinem letzten Besuch so betriebsam erlebt hatte, lag in tiefer Stille im Morgennebel. Kein einziges Flugzeug war zu sehen und – was mich mehr beunruhigte – auch kein Mensch. Es war kurz nach 7 Uhr früh. Ich ging ins Büro, in dem eine Sekretärin saß, die meine Daten aufnahm. Nach und nach kamen ein paar weitere Neulinge an. Ich bekam einen Namen gesagt: Gisbert. Das sei mein Fluglehrer.

Nachdem ich eine ganze Weile gewartet hatte, kam ein kleiner, sehr junger Mann auf mich zu. Mein Fluglehrer. Ich war erst enttäuscht, weil er nicht meinen Erwartungen entsprach (ich glaube, ich hatte einen vor Kraft strotzenden Menschen mit wettergegerbter Haut erwartet und keinen schmalen, kleinen blassen Studenten). Ein großer Irrtum, denn es stellte sich später heraus, dass ich mir keinen besseren Fluglehrer hätte wünschen können.

Auch der weitere Beginn meiner fliegerischen Karriere war ganz anders, als ich erwartet hatte. In meinen Gedanken lief die Sache so ab: Man würde sich erst mal eine ganze Weile mit der Theorie des Fliegens befassen und sich gleichzeitig langsam mit den Maschinen vertraut machen. Dann schließlich würde man irgendwann vorsichtig den ersten Flug wagen. Aber Gisbert führte mich ganz unprätentiös in den Hangar, sah mich prüfend an und meinte, ich würde wahrscheinlich wegen meiner Größe nur in eine einzige Schulungsmaschine passen. Und das war ein Super-Blanik L23, ein sehr ungewöhnliches tschechisches Flugzeug, das im Gegensatz zu allen anderen Segelflugzeugen komplett aus Metall gebaut ist und deshalb den Spitznamen „Blechbomber“ trägt (ein anderer beliebter Spruch über dieses Flugzeug ist: „In meinem ersten Leben war ich eine Coladose“). Diese unkomfortable aber gutmütige Maschine wurde mir im Lauf der Jahre sehr lieb.

Mein Lehrer zeigte mir kurz, wie man ein Flugzeug checkt und worauf dabei zu achten ist. Kurze Zeit später saß ich in der Maschine auf dem Sitz des Flugzeugführers (der bei doppelsitzigen Segelflugzeugen immer vorne ist) und bekam die Checkliste für den Start erklärt. Weitere zehn Minuten später wurden wir von der Winde in die Luft gezogen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, das war alles viel großartiger, als ich mir je erträumt hatte!

Der erste kurze Flug war rein zur Demonstration, aber schon beim zweiten durfte ich selbst steuern (oder es vielmehr versuchen). Ich war restlos begeistert. Das war meine Art zu lernen – durch praktisches Tun. Und Gisbert war der perfekte Lehrer: Er ließ mich probieren und, was noch wichtiger war, er ließ mich meine Fehler machen, ohne sofort einzugreifen. Und er hatte eine grenzenlose, ruhige Geduld, die durch nichts aus der Fassung zu bringen war. Selbst schärfster Tadel kam in völlig ruhigem Ton aus seinem Mund, was ihm allerdings nichts an Schärfe nahm, eher im Gegenteil.

Ganz im Gegensatz zu meinen Erlebnissen im Motorflug hatte ich im Segelflugzeug ein völlig anderes Gefühl. Von Anfang an vertraute ich der Maschine mit ihrer simplen, überschaubaren Technik sofort, zum anderen empfand ich das Fliegen im Segelflugzeug als viel unmittelbarer und direkter. Mir war, als seien die Tragflächen, die sich rechts und links in den Himmel streckten, meine eigenen Flügel. Von Anfang an schien es mir, als wären das Flugzeug und ich miteinander verbunden. Es war kein „ich und Du“, sondern eher ein „wir“, ein Zustand des Vertrauens, der Gewissheit, sich auf den anderen verlassen zu können. Das ist bis heute so. Und es ist bis heute so, dass ich dieses Verhältnis nicht zu einem motorgetriebenen Flugzeug habe.

Flugzeuge sind zwar äußerlich betrachtet „nur“ eine wesenlose, technische Sache, materiell gesehen eine Kollektion aus Werkstoffen, Schrauben, Nieten, Klebstoff, Seilzügen und ein paar Instrumenten. Aber fast alle ernsthaften Flieger, die ich kenne, haben eine sehr persönliche Beziehung zu ihren Maschinen. Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, streichen sie liebevoll über die Flächen. Viele reden im Flug mit dem Flugzeug und gestehen ihm eine eigene Persönlichkeit zu. Vielleicht kann der eine oder andere Autobesitzer das gut nachfühlen...

Mir jedenfalls geht es so. Ich fühle mich mit den Fliegern, die ich fliege, verbunden. Ich genieße es, die Einheit mit dem Flugzeug und die damit verbundene Illusion eigener Flügel zu fühlen. Und wenn uns eine Thermik langsam in den Himmel hinaufhebt, dann ist das ein so unvergleichliches Gefühl, dass ich es körperlich spüre. Seltsamerweise war das alles von Anfang an so.

Und alles erschien mir so einfach! Ich hatte keine Probleme mit dem Starten und Landen, ganz im Gegensatz zu meinen Erlebnissen im Motorflug. Im Gegenteil: Bei der Landung war es mir von Anfang an so, als müsste ich der Maschine nur dabei zusehen, die richtigen Steuerbewegungen kamen ganz von alleine, fast zwangsläufig. Als ich später in einem Gewittersturm meine erste Sturmlandung machte, war es genauso – ab dem Landeanflug kann ich mich nicht daran erinnern, bewusst etwas unternommen zu haben. Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, bei der Landung zugesehen zu haben.

Probleme hatte ich nur mit meiner Motorik – ein Segelflugzeug wird mit sehr kleinen Bewegungen gesteuert, und diese Bewegungen muss man lernen. Man muss lernen, dass nicht jeder kleine Zucker der Maschine mit einem Riesensteuerausschlag beantwortet werden muss und man muss lernen, dass die Trägheit der Maschine dazu führt, dass Steuerbewegungen sich erst einen kleinen Moment später auswirken. Um die Bewegungsabläufe besser und schneller zu lernen und um komplexe Abläufe schneller in mein Unterbewusstsein zu bekommen, trainierte ich in jeder freien Minute mental: Ich setzte mich hin, schloss die Augen und flog in meiner Vorstellung immer wieder bestimmte Situationen und Manöver. Dabei achtete ich darauf, sie nicht beschleunigt zu durchleben, sondern sehr langsam und bewusst, mir jede einzelne Bewegung exakt vorzustellen.

Diese Übungen halfen mir enorm. Sie führten vor allem dazu, dass ich viele Dinge schon nach kurzer Zeit unbewusst tun konnte, was mir die Möglichkeit gab, anderen Dingen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und so kam es, dass ich nach weniger als zwei Flugstunden und insgesamt 32 Starts und Landungen meinen ersten Alleinflug machen durfte.

Ich habe später viele Kameraden befragt, was sie bei ihrem ersten Alleinflug gemacht haben. Die meisten haben gesungen - so wie ich. Kaum hatte ich mich aus dem Windenseil ausgeklinkt, sang ich lauthals, natürlich ein Lied vom Fliegen (halbwegs zumindest: "I am sailing"). Ich habe diesen Moment so intensiv ausgekostet, wie man es nur tun kann - und war zugleich ein wenig traurig, weil ich wusste, wie schnell er zu Ende gehen würde, wie bald die Erde wieder auf mich zukommen würde. Hätte ich damals auch nur das kleinste bisschen von Thermik verstanden, ich hätte versucht, die Landung so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber die Landung kam nach vier kurzen, intensiven Minuten, und wie alle Landungen in meinem Leben geschah sie einfach. Man sagte mir später, es sei eine perfekte Landung gewesen, aber ich betrachte das nicht als mein Verdienst.

Was nach dem ersten Alleinflug kommt, weiß jeder (Segel-)Flieger. Man hat sich freigeflogen (genaugenommen sind es drei Starts hintereinander, die man alleine macht) und hat damit den ersten Ausbildungsabschnitt der Segelflugausbildung beendet. Das wird traditionell mit der „Förderung des Thermikgefühls“ gefeiert, die darin besteht, dass der gebückt dastehende frischgebackene Flieger von jedem Anwesenden einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hintern bekommt, auf dem zu diesem Zweck eigens ein „Lande-T“ mit Kreide aufgemalt wird. Da manche Kameraden noch extra Anlauf nehmen, ist diese Prozedur mitunter recht schmerzhaft. Deshalb wird auch bei weiblichen Aspiranten mit der linken Hand geschlagen.

Man hört häufig, der erste Alleinflug sei einer der wesentlichen Eindrücke im Fliegerleben. Für mich trifft das nicht zu. Es war ein großer Moment, und ich war glücklich, aber es lässt sich nicht im entferntesten mit dem Glück vergleichen, das ich empfand, als ich lange Zeit später nach bestandener amtlicher Prüfung endlich meinen Schein in der Hand hielt.

Doch damals, nach meinem ersten Alleinflug, glaubte ich, meine Ausbildung sei nun bald beendet, in ein paar Wochen vielleicht. Als Flugschüler bekommt man eine kleine Karte, auf der aufgedruckt ist, welche Anforderungen die drei Ausbildungsabschnitte (A, B und C) umfassen. Das sah eigentlich alles nicht so schwierig aus. Aber Stück für Stück holte mich dann doch die Realität ein. Bis jetzt hatte ich nur die „vier R’s“ geflogen (rauf, rum, runter, raus) - nun fing ich erst wirklich mit dem Fliegen an.

Im Abschnitt B lernt man die Grundlagen für anständiges Fliegen. Der Lehrer fliegt nun nur noch selten mit, man ist auf sich allein gestellt und macht die ersten zögernden Schritte. Starten und Landen kann man nun halbwegs, aber man kann keine sauberen Kurven fliegen, man schafft es noch nicht so ganz, automatisch und in jeder Situation die Nase des Fliegers gerade zu halten. Und dann muss man auch noch den Faden - eines der wichtigsten Instrumente für einen Flugschüler - gerade halten. Der Faden ist tatsächlich ein kleines Stück Wollfaden, das mit Klebeband in der Mitte der Haube befestigt wird. Fliegt das Flugzeug stabil geradeaus, dann zeigt der Faden genau nach hinten. Wird die Maschine dagegen von der Seite angeblasen, dann weicht der Faden von der Mitte ab - ein sicheres Zeichen dafür, dass der Flieger „schiebt“, also nicht optimal fliegt.

Am Anfang ist es zum Verzweifeln: Man schafft es mit Ach und Krach, genau horizontal zu fliegen und die Geschwindigkeit zu halten. Versucht man aber eine Kurve zu fliegen, dann rutscht entweder der Faden zur Seite weg oder man drückt die Maschine zu stark nach unten, so dass sie Fahrt aufnimmt. Schafft man, den Horizont zu halten, dann kriegt man den Faden erst recht nicht in die Mitte.

Zögernd dreht man die ersten Kreise, viel zu weit noch und ganz vorsichtig. Aber man hat schon ab und zu Glück und findet eine Thermik, die die üblichen 4 Minuten für die Platzrunde zu unfassbaren 10 Minuten anwachsen lassen, nach denen man sich fühlt, als habe man den Himmel erobert und alle Naturgesetze überwunden. Ganz wacklig eiert man dann durch den Aufwind und ärgert sich, mit welcher Leichtigkeit erfahrene Piloten, die die selbe Thermik nutzen, Höhe gewinnen und nach wenigen Minuten verschwunden sind, während man selbst sich gerade mal so halten kann. Voller Sehnsucht sieht man ihnen nach und reißt sich umso mehr zusammen. In solchen Momenten merkt man, wie viel man noch zu lernen hat und der Erfolg des anderen motiviert einen umso mehr.

Fünf intensive Flugtage nach meinem ersten Alleinflug hatte ich den Ausbildungsabschnitt B abgeschlossen und flog meine B-Prüfung, die eigentlich relativ unspektakulär ist - sie besteht aus etwas fortgeschritteneren Flugmanövern wie einer hochgezogenen Fahrkurve, Kurvenwechsel, Rollen um die Querachse und einem Slip bei der Landung. Aber sie ist  der Beginn des aufregendsten Teils der Flugschulung - der Himmel beginnt sich zu öffnen.

Wenn man nämlich schließlich eine Gesamtflugerfahrung von weiteren zwei Stunden hat (das sind sehr viele 4-Minuten-Platzrunden, selbst wenn man einige etwas ausdehnen kann), darf man schließlich an den Hang. Das ist ein großes Erlebnis, denn im Gegensatz zum fast aufwindlosen Tal ist der Hang die Leiter in den Himmel. Dort ist wirkliche Thermik (oder das, was man als Anfänger dafür hält), dort kann man sich in größere Höhen erheben und man kann stundenlang in der Luft bleiben. Hier am Hang hatte ich das erste Mal das Gefühl, nun wirklich tatsächlich zu fliegen.

In großen, flachen Achten fliegt man den Hang entlang, ertastet sich die Thermik, fliegt den Bussarden nach und langsam beginnt sich der Vorhang vor den Alpen zu heben, die großen Berge tauchen aus dem langsam versinkenden Tal auf. Ich fliege!

Am Hang lernt man auch viel vom Handwerkszeug: Sensibel zu fliegen, auf Abrisskanten zu achten, die guten Aufwind versprechen, und das Lee dahinter zu meiden, wo die Luft schnell sinkt und die gewonnene Höhe wieder zerstört. Und es ist viel Verkehr am Hang, viele benutzen diesen Aufzug in den Himmel - man muss höllisch aufpassen, nicht den anderen in den Weg zu geraten. Und der Hang ist Motivation in Reinstform - gerade wenn man sich für den großen Flieger hält, kommt ein kleines Flugzeug daher und schraubt sich scheinbar mühelos nach oben, während man sich selbst noch mühsam um jeden Meter Höhe ringt. Ich kann es noch nicht, aber ich will es können!

Vom Hang aus macht man auch die ersten kleinen Erkundungsflüge in die allernächste Umgebung: Ein wenig über den Ort hinaus, eine kleine, erfolglose Thermiksuche über dem Tal. Um eine Erfahrung reicher und ein paar hundert Höhenmeter ärmer kommt man um einiges bescheidener wieder an den Hang zurück und ringt wieder um ein bisschen Höhe mehr. Die anderen steigen wieder mühelos höher, schrauben sich bis zum Gipfel hinauf und fliegen dann ab zum „Hausbart“, zum großen Mythos des Flugschülers. Der Hausbart, das ist das Ziel aller Bestrebungen, allein ihn zu erreichen ist schon eine Heldentat ohnegleichen, aber diese verlässliche Thermik auch erfolgreich auszufliegen bedeutet den Griff nach den Sternen: Hier kann man 1000 Meter Höhe über dem Platz und mehr erreichen, und das ist das Tor zu den Streckenflügen, zur Welt der Alpen, der Absprungspunkt zum wahren Fliegen.

Voll Sehnsucht blickt man den anderen nach, die hinüberfliegen - wohl wissend, dass man es selbst nicht kann. Noch nicht. Und übt umso verbissener am Hang. Eines Tages hat man dann die nötige Höhe für den Abflug zum Hausbart erreicht, aber man wagt es nicht. Komme ich überhaupt wieder zurück? Reicht die Höhe wirklich? Ist es mir überhaupt erlaubt? Man lässt es bleiben und dreht noch ein paar Schleifen am Hang.

Dann kommt irgendwann der „Hammertag“, der Tag, an dem alles möglich ist, an dem die Thermik wie ein Expressaufzug an den Hängen entlang streicht und einen in Sekunden bis an die Wolkenuntergrenze befördert. Zusätzlich hatte ich just an diesem Tag das Glück, auf „Plastik“ umsteigen zu dürfen, auf einen leistungsfähigeren Kunststoffflieger also - in meinem Fall einen Astir CS. Und es war ein „Hammertag“ - ich konnte zum ersten Mal den Hang weit übersteigen. Das Gipfelkreuz war nach wenigen Schleifen unter uns und der Vorhang hatte sich wieder gehoben - der Alpenhauptkamm lag wie zum Greifen vor mir. Der Hausbart steht uns offen! Ich fragte nicht lange und machte mir auch keine Gedanken, ob es mir erlaubt war - ich wollte es mehr als alles andere in der Welt. Also flogen wir hinüber, der Astir und ich. Und wir erreichten ihn nicht nur, ich fand auch sofort die Thermik - und was für eine!

Das Tor zu einer neuen Welt ging auf für mich: Kurbeln im Bart. Ständiges Kreisen in der Luft bei gleichzeitigem Zentrieren der Thermik - das hatte ich bisher kaum üben können. Und die Luft war furchtbar turbulent hier. Ungeschickt drehte ich meine Kreise, schaffte es weder, den Bart zu zentrieren noch saubere Kreise zu fliegen. Dazu kam die noch ungewohnte neue Maschine, die sich aber herrlich leicht flog. Doch die Thermik war so stark, dass sie uns trotz meines Unvermögens nach oben zog, bis wir schließlich fast 1000 Meter über dem Boden waren. Dort wurde die Thermik immer schwächer - so schwach, dass ich sie mit meiner mangelnden Erfahrung nicht mehr nutzen konnte, wohl weil ich sie schlicht verloren hatte.

Aber so vieles Neues war nun erreichbar - die Berge lagen dicht vor mir und was vorher weit und unerreichbar ausgesehen hatte, schien nun zum Greifen nah. Und wie einer Eingebung folgend flog ich zum Geigelstein - über einen Grat, der vom „Hausbart“ bis hinauf zum Gipfel des Berges führt. Ich dachte mir, dass dort am Grat eigentlich bestes Steigen zu erwarten sein sollte.

Zu meinem großen Erstaunen war der Aufwind über dem Grat so stark, dass ich nicht kreisen musste: Während ich direkt auf den Berg zuflog, wurde die Maschine so stark angehoben, dass ich nicht in die Bergflanke flog, sondern wir wie in einer Seilbahn auf geradem Kurs bis zur Spitze hinauf transportiert wurden - ein unvergessliches Erlebnis. Jetzt begriff ich einiges: Kameraden hatten immer wieder von der „Seilbahn“ am Geigelstein gesprochen - aber ich hatte nie eine gesehen. Nun wusste ich, was die „Seilbahn“ ist.

Am Geigelstein habe ich Zeit und Raum vergessen. Mein Flieger und ich kreisten wie in einer anderen Dimension. Zum ersten Mal überflog ich den Gipfel eines richtigen Berges, konnte die Wanderer unter mir erkennen, die uns zuwinkten, während wir glücklich, leicht und weltvergessen unsere Kreise zogen. Es gab keine Sorgen mehr, keine Schwere, keine Zeit. Ich weiß noch, dass ich eine neue Entdeckung machte: Ich flog bei meinen Kreisen um den Gipfel immer wieder über einen Grat und damit ins Lee, in den dem Wind abgekehrten Bereich, der in den Bergen gefährlich turbulent sein kann. Das erlebte ich hier zum ersten Mal und bekam einen mächtigen Schreck, als wir plötzlich brutal nach unten gedrückt wurden und die Almen näher kamen. Aber letztendlich konnte es meine Freude nicht trüben. Wir flogen und flogen...

Nach mehr als einer Stunde kamen andere Dinge wieder in mein Bewusstsein. Ich hatte den „Platzbereich“ verlassen, etwas, das mir als Flugschüler verboten war. Mehr noch: Ich war mit der Zeit ein ganzes Stückchen weiter nach Süden, auf die großen Berge zu, geflogen und war nun in Österreich, wohl ein weiterer schwerer Verstoß gegen die Regeln, die für mich galten. Mit Bange im Herzen flog ich zurück, mit direktem Kurs auf den Platz, den ich trotz meiner Verzückung keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. Zumindest kannte ich die Richtung, denn wirklich sehen konnte man ihn nicht mehr, er lag in einem anderen Tal.

Im Gegensatz zu Schulflugzeugen hat der Astir ein Einziehfahrwerk, das man vor der Landung ausfahren muss. Ich hatte zweimal erlebt, wie Schüler das vergaßen, was zu einer spektakulär lauten Landung in einer Wolke verdampfenden Kunststoffs führt. Und immer hatte mich die Sorge geplagt, ich könnte es eines Tages vergessen. Aber es war, als würde mich der Astir darauf aufmerksam machen - als wir zur Landung kamen, war es mir, als wäre ich mein ganzes Leben mit Einziehfahrwerk geflogen. An der Position, einer festgelegten Stelle in der Platzrunde querab vom Aufsetzpunkt, fuhr ich fast automatisch das Fahrwerk aus und meldete „07 an Position, Fahrwerk ausgefahren und verriegelt“ über Funk. Dann landeten wir in einer perfekten Landung.

Gleich nach dem Ablegen des Fallschirms sah ich einen Fluglehrer auf mich zukommen. In Erwartung eines Donnerwetters entschloss ich mich zu einer bedingungslosen, freiwilligen Beichte. Während ich mein Geständnis ablegte, sah mich der Fluglehrer belustigt an und sagte dann:

„Du warst doch die ganze Zeit im Hausbart. Ich hab Dich gesehen“

„Nein, ich war wirklich am Geigelstein, und dann noch weiter, in Österreich...“

„Ich habe Dich die ganze Zeit am Hausbart gesehen“ sagte er, drehte sich um und ging, immer noch lächelnd. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und schlich wie ein Hund, der gerade den Sonntagsbraten gefressen hat, zur Flugleitung. Jetzt aber, jetzt würde ich mein Donnerwetter bekommen. Flugverbot vielleicht sogar. Und Schluss mit dem schönen Plastikflieger, statt dessen Sünden büßen auf Schulmaschinen.

„Hrrrmmm, Du, ich glaube, ich war ein bisschen weit weg heute“, sagte ich zum Flugleiter.

„Nein, ich habe Dich die ganze Zeit über im Hausbart gesehen“ war wieder die Antwort. Jetzt kapierte ich es endlich. Ich glaube, es war eins der größten Komplimente, das ich je in der Fliegerei bekommen habe. Wir vertrauen Dir, hieß das. Flieg wohin Du willst, solange Du keine Dummheiten anstellst und heil zurückkommst. Ich bin seit dem nie wieder in der Ausbildung so weit weggeflogen, weil ich dieses Vertrauen nicht enttäuschen wollte.

Aber ich begann nun, die weitere Umgebung des Platzes zu erkunden. Auf 1000 Meter zu steigen gelang immer öfter, das Kreisen in der Thermik wurde langsam zur Routine. Es dauerte nicht sehr lange, und ich hielt mich für einen großen Flieger. Am Hang kam ich in wenigen Minuten hoch, der Absprung zum Hausbart war zwar noch schwierig, aber kein großes Problem mehr - das alles bewirkte, dass ich übermütig wurde. Ich begann, „enger“ zu fliegen, weniger Platz zwischen mir und den Bäumen zu lassen, wenn ich am Hang flog oder in ein paar Metern Höhe über den Grat des Hangs zu donnern. Bis ich eines Tages am Hang beinahe in die Bäume gefallen wäre, ganz aus eigener Schuld.

Als ich wenig später in einem starken Leerotor wieder die Bäume auf mich zukommen sah, hatte ich endlich eine ganz wesentliche Lektion gelernt: Übermut, Leichtsinn und Selbstüberschätzung sind beim Fliegen ein sicherer Fahrschein in die Ewigkeit. Mit dieser Einsicht kam gleichzeitig das schöne, ruhige Fliegen zurück. Ich wandelte mich vom Heißsporn, der ich eine Weile gewesen war, in einen ruhigeren Genussflieger und begann, das Fliegen noch einmal neu zu lernen. Es kam mir nicht mehr darauf an, in extremer Hangnähe das letzte Steigen mitzubekommen oder knapp über einer Alm in einen Bart einzusteigen.

Statt dessen flog ich stundenlang in minimaler Thermik meine Kreise und übte, optimal zu fliegen. Ich begann, meine Erkundung der Gegend fortzusetzen, immer brav in Sichtweite des Platzes. Ich probierte die Gleiteigenschaften der Maschine aus und legte Sicherheitshöhen fest, bei denen ich umkehrte.

Dann, ganz am Schluss meiner Ausbildung, kam schließlich die theoretische Schulung. Besonders fasziniert war ich von der Meteorologie - das alles eröffnete völlig neue Welten für mich. Ich wollte, nein ich musste das Wetter verstehen, um eines Tages auch lange Strecken fliegen zu können. Schon während meiner Flugausbildung hatte ich mich eingehend mit diesem Thema beschäftigt, was zur Folge hatte, dass ich einen Teil der Meteorologie-Schulung abhielt, weil ich adiabatische Vorgänge besser erklären konnte, als der Lehrer. Die Meteorologie ist mittlerweile eins meiner Hobbies geworden. So unnötig ich manches andere in der theoretischen Ausbildung fand: Die Meteorologie ist für mich eine der Grundlagen des Fliegens geworden.

Nach der Theorieschulung kommt der neben der theoretischen Prüfung schwierigste Test für das eigene Können: Ein 50-Kilometer Dreiecksflug. Ich habe darüber eine eigene Geschichte geschrieben.

Die theoretische Prüfung war ein Tag für sich, und eindrucksvoller als die ganz unspektakuläre praktische Prüfung, bei der ich von Anfang an sicher war, sie zu bestehen. Als ich zur schriftlichen Prüfung ins Luftamt Bayern Süd kam, hatte ich gewaltiges Lampenfieber. Ich hatte zwei Wochen ununterbrochen gelernt und war trotzdem aufgeregt - alles hing nun davon ab. Dann saßen wir alle vor unseren Bögen, während übelgelaunte, missmutige Prüfer Thema für Thema die Prüfungsbögen austeilten: Luftrecht, Meteorologie, Navigation, Technik, Verhalten in besondern Fällen. Allein die Beantwortung der vielen Fragen dauert Stunden, und wer in einem der Fächer weniger als 85 Prozent erreicht, muss zusätzlich in die mündliche Prüfung. Glücklicherweise schaffte ich es, das zu vermeiden, auch wenn es in zwei Fächern sehr knapp war.

In Technik gab es eine Frage, auf die meiner Meinung nach keine der möglichen vier Antworten passte. Ich rief den Prüfer und wies ihn darauf hin. Er meinte, wenn ich schon der Meinung sei, dass die Prüfungsunterlagen einen Fehler enthielten, dann sollte ich eben meine Lösung an den Rand schreiben. Das tat ich schließlich widerstrebend, da ich sonst keine andere Antwort gewusst hätte. Eine von den vorgegebenen Lösungen war zwar annähernd richtig, aber eben nicht ganz.

Nach der Abgabe des Bogens beobachtete ich gespannt den Prüfer beim Korrigieren. Ich wusste, das es knapp war und dass vielleicht diese eine Frage entscheidend sein konnte. Schließlich stand er auf und kam mit einer ausgesprochenen Leichenbittermine auf mich zu, die ausdrückte: Durchgefallen. In diesem Moment musste ich lachen: So hatten meine Lehrer im Gymnasium auch immer ausgesehen, wenn sie mir vor Verkündung der frohen Botschaft noch einen Schreck einjagen wollten. Der Prüfer stellte sich neben mich und sagte: „Sie sind der erste, der den Fehler bemerkt hat. Ihre Antwort ist richtig. Und sie hat Sie gerettet, weil Sie den Rest nämlich ausgesprochen schlecht beantwortet haben. Sie haben in Technik mit 85 Prozent gerade noch bestanden.“

Wenn man die fünf Prüfungsfächer nach einigen Stunden hinter sich hat, kommt die Prüfung zum Funksprechzeugnis, eine wahre Entspannung nach all den vielen Bögen, Zahlen und Fragen. Die Funksprechprüfung ist, als würde man im Flieger sitzen und den Funkverkehr abwickeln. Eine Textübersetzung ins Englische, zwei simulierte Flüge, ein paar Fragen zum Verständnis und es ist ausgestanden.

Die Stimmung nach der bestandenen Prüfung war unbeschreiblich. Ich war unfassbar glücklich und erleichtert. Diese Prüfung war der Fokus allen Strebens, die wesentliche Voraussetzung und für mich größte Hürde zum Erwerb meiner Lizenz - alles andere war pure Freude und reines Vergnügen gewesen. Die praktische Prüfung war wie erwähnt eine reine Formsache, bei der ich lediglich ein bisschen Enttäuschung darüber empfand, dass sie so unspektakulär war. Das einzige Erwähnenswerte waren zwei kleine Episoden während des zweiten und dritten Prüfungsflugs (alle drei Flüge finden unmittelbar hintereinander statt):

Nach dem zweiten Start sollte ich in 350 Meter Höhe Langsamflug demonstrieren und ein Abkippen der Maschine (das zum Trudeln führen kann) verhindern. Also flog ich die Maschine an die Abreißgeschwindigkeit und stützte mit dem Seitenruder, um ein Ausbrechen zu verhindern. In diesem Moment griff der Prüfer ein und gab massiv Seiten- und Querruder. Da er mir ja gesagt hatte, ich sollte ein Abkippen verhindern (was auch angesichts der Bodennähe sicherer war), steuerte ich ebenso energisch gegen und hielt die Maschine. Der Prüfer, der wohl anderes vorgehabt hatte, lachte und meinte, ich sollte normal weiterfliegen.

Der zweite Zwischenfall passierte im letzten Landeanflug. Der Prüfer wollte, dass ich die Landung in einem Slip fliege. Was ich da fabrizierte, gefiel ihm nicht, weshalb er das Steuer übernahm, um mir zu demonstrieren, wie man einen anständigen Slip fliegt. Der dann nur halb so schön wurde, wie der meine. Auch darüber konnte der sympathische alte Herr lachen und drückte mir nach der Landung die Hand zur bestandenen Prüfung.

Eins kann ich über meine Flugausbildung sagen: Ich hatte oft das Gefühl, nun endlich wirklich zu fliegen, fliegen zu können. Das Schöne am Fliegen ist, dass dieses Gefühl immer wieder kommt. Wenn man seinen Schein in der Tasche hat, beginnt das Fliegen eigentlich erst richtig. Die Horizonte wachsen, die Flüge werden länger, die Entfernungen größer und man lernt ständig weiter dazu. Immer, wenn man denkt, man hätte schon eine Menge gelernt, kommen neue Welten auf einen zu. Das macht einen bescheiden. 

Und jeder einzelne Flug hat eine eigene Schönheit, deren Intensität ständig zuzunehmen scheint. 

Ich wünsche mir, dass das immer so bleiben wird.

Links aus dem Text:
  Mein Prüfungsflug (50 Kilometer)
  Sturmlandung

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